Streichung von Pflegegrad 1 wird geprüft: Darf man bei der Pflege wirklich sparen?
BILD berichtete über die neue Kürzungs-Idee aus der Regierung +++ Die große Diskussion von Politik, Experten und Betroffenen
Berlin – Eine neue Spar-Idee aus der Regierung betrifft ausgerechnet die Pflege! Wie BILD berichtete, prüft die Regierung die Abschaffung des Pflegegrads 1. Mehr als 860.000 Menschen wären davon betroffen. Etwa weil sie Leistungen bekommen, die nicht unbedingt notwendig sind? Die große Frage ist: Darf man bei der Pflege wirklich sparen?
Klar ist: Es fehlt der gesetzlichen Pflegeversicherung an Geld. Mal wieder. Betroffene und Angehörige spüren das längst knallhart, zum Beispiel an den so stark gestiegenen Eigenanteilen für die Heimpflege. Und alle Beitragszahler spüren das ebenfalls: Fast jedes Jahr steigen die Pflegebeiträge. Zuletzt wurden sie zum 1. Januar um 0,2 Prozentpunkte auf 3,6 Prozent angehoben. Für Kinderlose liegt der Beitrag bereits bei vier Prozent.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (46, CDU) kämpft also hart ums Geld. Im Jahr 2026 fehlen ihr in der Pflegeversicherung voraussichtlich rund zwei Milliarden Euro, in der gesetzlichen Krankenversicherung kommen noch einmal rund vier Milliarden Euro dazu.
Und dieses Finanzloch kann wohl nur noch gestopft werden, wenn die Regierung entweder die Beiträge weiter erhöht. Oder wenn sie eben Leistungen für Patienten und Pflegefälle kürzt. Denn die Zahl der Pflegebedürftigen steigt weiter: Aktuell sind es rund 5,7 Millionen Menschen in Deutschland und rund 700.000 mehr als vor fünf Jahren.
Wie BILD nun erfuhr, prüft die Regierung die Streichung des Pflegegrads 1! Dies würde – nach Berechnungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) – rund 1,8 Mrd. Euro einsparen, könnte das Loch also stopfen helfen.
Die rund 860.000 Betroffenen (Tendenz steigend) in diesem niedrigsten Pflegegrad (geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit) müssten dann auf 131 Euro für Unterstützung im Alltag – etwa für Putzhilfen oder Einkaufsdienste – oder als Entlastung für pflegende Angehörige verzichten. Ebenso auf Zuschüsse für den Umbau der Wohnung und einen Notrufknopf.
Der Koalitionspartner SPD lehnt die Idee zur Streichung des Pflegegrads 1 – noch vor Prüfung – sofort ab! Doch es gibt auch Zuspruch.
„Genau richtig, darüber nachzudenken“
Bernd Meurer (68), Präsident des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), sagt zu BILD: „Wir sehen knappe finanzielle Ressourcen und eine massiv steigende Zahl an Pflegebedürftigen. Da ist es genau richtig, darüber nachzudenken, wie zielgenauer die Betroffenen mit hohen Versorgungsbedarfen unterstützt werden können.“
Meurer erwartet aber neben der nun erwogenen Maßnahme, dass in der Bundesregierung auch „die großen Baustellen angegangen und die versicherungsfremden Leistungen aus der Pflegeversicherung herausgenommen werden“. Allein die Kosten für die Rentenpunkte der pflegenden Angehörigen seien zuletzt von drei auf vier Milliarden Euro gestiegen. Mit diesen Einsparungen müssten dann „die Eigenanteile der Pflegebedürftigen gesenkt werden“.
„Beendigung der Zahlungen für Pflegegrad 1 wäre ein Beitrag“
Gesundheitsökonom Professor Boris Augurzky (53, RWI Essen) dazu: „Der Druck auf den Beitragssatz ist immens hoch. (…) Wir müssen die Kostenanstiege dringend begrenzen. Wenn wir die Sozialabgabenquote, die bereits bei 42 Prozent liegt, stabilisieren wollen, müssen alle vier Sozialversicherungen – Rente, Pflege, Gesundheit, Arbeitslosenversicherung – Einsparungen erzielen. Die Beendigung der Zahlungen für Pflegegrad 1 wäre ein Beitrag dafür.“
Experte Augurzky sieht aber auch die Gefahr, dass durch die Streichung mittelfristig „vermehrt in den Pflegegrad 2 gegangen wird“, wo dann natürlich deutlich „höhere Kosten entstehen“.
„Pflege darf nicht das Sparschwein verkorkster Haushaltspolitik sein“
Kritik kommt hingegen von Arzt und Gesundheitsexperte Janosch Dahmen (44, Grüne). Dahmen zu BILD: „Pflege darf nicht das Sparschwein verkorkster Haushaltspolitik sein. Statt 860.000 pflegebedürftigen Menschen Alltagshilfen zu streichen, muss Ministerin Warken ehrlich sein: Versicherungsfremde Kosten gehören in den Bundeshaushalt. Das Geld, das in der Pflegekasse fehlt, hat der Staat in der Pandemie selbst herausgenommen.“
„Beitragszahler nicht die Deppen der Nation“
Gesundheitsexpertin Emmi Zeulner (38, CSU) lehnt die Streichung ab. Zeulner zu BILD: „Die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkasse sind nicht die Deppen der Nation. Bevor man über Leistungskürzungen diskutiert, wäre es wichtiger, über Kostenwahrheit und Kostenklarheit zu sprechen. Denn es ist durch nichts zu rechtfertigen, dass der gesetzlich Krankenversicherte weiterhin anteilig Bürgergeldempfänger finanziert, Corona-Kosten ausgleicht und versicherungsfremde Leistungen bezahlt. Eine akzeptierte und erfolgreiche Reform fußt auf einer ehrlichen Analyse.“
„Ein schwerer Schlag für Betroffene“
Eugen Brysch (63), Chef Deutschen Stiftung Patientenschutz, zu BILD: „Der Pflegegrad 1 wurde 2017 eingeführt, um demenziell erkrankte Menschen in die Pflegeversicherung zu integrieren. Damals wurde das von allen Parteien als überfällig gefeiert. Denn: Millionen Betroffene und ihre Familien erhielten keine Unterstützung durch die Sozialversicherung. Wenn die Regierung den Pflegegrad abschaffen will, wäre das ein schwerer Schlag für Betroffene.“
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