Robertson gedenkt Diogo Jota

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27 Jahre Leidenszeit sind vorbei: Schottland wird erstmals seit 1998 wieder an einer Weltmeisterschaft teilnehmen. Die Freude im Hampden Park kannte nach dem dramatischen 4:2 gegen Dänemark, bei dem Kieran Tierney und Kenny McLean mit ihren Toren erst in der Nachspielzeit das Ticket sicherten, keine Grenzen. Es war ein Abend für die Geschichtsbücher der Bravehearts, die danach dem Motto „No Scotland, No Party“ alle Ehre machten.
Trainer Steve Clarke hatte seine Spieler vor dem entscheidenden Duell aufgefordert, mit „der Vorfreude auf den Erfolg und nicht mit der Angst vor dem Scheitern“ aufzutreten. Denn nur ein Sieg bedeutete die direkte Qualifikation, ansonsten hätte man in die Playoffs gemusst. Aber seine Schützlinge zeigten sich dieser Aufgabe gewachsen. Die Schotten gingen innerhalb von 90 Minuten zweimal in Führung, verloren diese aber zweimal, ehe sie in der Nachspielzeit zuschlugen – unter anderem mit einem Tor aus der eigenen Hälfte.
„Ich habe zweimal überlegt, ob ich schießen soll“, sagte McLean, der Kasper Schmeichel von kurz vor der Mittellinie überlobbte. „Der Torwart ist nicht so schnell zurückgegangen, also habe ich es versucht. Zu sehen, wie der Ball ins Tor geht, ist das beste Gefühl, das ich je hatte.“ Auch Torschütze Tierney konnte sein Glück kaum fassen: „Das ist Wahnsinn, Mann. Eines der besten Gefühle überhaupt. Diese Mannschaft, die Betreuer, alle haben es verdient. Es ist ehrlich gesagt zu schön, um wahr zu sein. Was für ein Abend!“
Den Fans im Hampden Park wurde die komplette Palette an Fußball-Emotionen geboten. Nach nur drei Minuten erzielte Scott McTominay mit einem sehenswerten Fallrückzieher den womöglich schönsten Treffer in der Geschichte Schottlands, woraufhin die heimischen Fans in Jubel ausbrachen. Da kam auch McLean mit seinem 50-Meter-Schuss nicht heran: „Tierney sagte zu mir: ‚Du hast nur das drittbeste Tor des Spiels geschossen und es war ein Kracher.‘“
Dennoch dominierten lange Zeit die Dänen das Geschehen, die großes Pech hatten, zur Halbzeit zurückzuliegen, doch Rasmus Højlund glich in der 57. Minute per Elfmeter aus. Das Blatt wendete sich jedoch, als der Frankfurter Rasmus Kristensen in der 61. Minute eine umstrittene Gelb-Rote Karte erhielt. Mehr als eine halbe Stunde mussten die Mannen um Kapitän Pierre-Emile Højbjerg in Unterzahl durchhalten. Dies nutzte Schottland aus. Der eingewechselte Lawrence Shankland brachte die Bravehearts in der 78. Minute mit einem Schuss aus kurzer Distanz in Führung, ehe Patrick Dorgu (81.) für Dänemark zurückschlug. Alles sah nach einem bitteren Abend für Schottland aus, bis die Stunde von Tierney und McLean schlug und das Stadion in Ekstase versetzt wurde.
Kapitän Robertson und McGinn nach WM-Qualifikation emotional
Tierney wurde 1997 geboren und war damit etwa eins, als sich sein Heimatland zuletzt auf der ganz großen Fußball-Bühne präsentierte. Andere aus dem Team waren wiederum noch gar nicht auf der Welt, während Spieler wie Kapitän Andrew Robertson (31) oder John McGinn (31) schon ein paar Jahre lebten, aber dennoch keine bis kaum Erinnerungen an die Endrunde in Frankreich haben dürften.
Für die beiden Führungsspieler könnte das Turnier in den USA, Kanada und Mexiko die letzte WM-Chance sein – entsprechend emotional waren sie. Ein wenig schottischer Humor durfte bei Aston-Villa-Profi McGinn aber auch nicht fehlen. „Ich fand uns ehrlich gesagt ziemlich schlecht, aber wen interessiert das schon?“, sagte er und richtete ein Lob an die Mannschaft: „Es ist jedes Mal ein Privileg, wenn wir uns treffen. Es sind einfach bescheidene Jungs, die für ihr Land ihr Bestes geben wollen und wir haben alles gegeben.“ Der Mittelfeldspieler gab aber auch zu, dass er kurzzeitig gezweifelt hatte. „Man denkt, das war’s – ein glorreicher Misserfolg, ein weiterer Rückschlag. In der 91. Minute habe ich schon an die Play-offs gedacht. Aber dann dieser Schuss von KT – so etwas werde ich in einem Fußballstadion nie wieder erleben.“
Robertson dachte nach dem Abpfiff vor allem an seinen ehemaligen Teamkollegen beim FC Liverpool, Diogo Jota, der im Juli bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. „Ich habe es gut versteckt, aber heute war ich völlig fertig“, berichtete der Linksverteidiger mit Tränen in den Augen. „Ich weiß, dass ich in meinem Alter vielleicht meine letzte Chance habe, zur Weltmeisterschaft zu fahren. Ich konnte meinen Kumpel Diogo Jota heute nicht aus meinem Kopf bekommen. Wir haben so viel darüber gesprochen, zur WM zu fahren, weil er die letzte mit Portugal verpasst hat wegen einer Verletzung und ich mich mit Schottland nicht qualifiziert habe. Ich weiß, dass er heute für mich lächeln wird.“
Lob für Trainer Clarke – Trotzt Kritikern
Robertson stellte zudem die Wichtigkeit von Trainer Clarke heraus, der als erster Coach die Schotten zu drei großen Turnieren führte. „Die Ansprache des Trainers vor dem Spiel war unglaublich. Er hat die großen Momente Revue passieren lassen, die wir erlebt haben. Die Qualifikation für die EM – er konnte sich nicht mehr ganz daran erinnern – wir waren in der Wunderbar (Cocktailbar in Glasgow, Anm. d. Red.). Er sagte: ‚Setzen wir noch einen drauf!‘“
Clarke steht seit Mai 2019 bei den Schotten an der Seitenlinie und betreute die Mannschaft bei den letzten beiden EMs 2021 und 2024. Aus bislang 74 Partien holte er durchschnittlich 1,61 Punkte. Während seiner Amtszeit sah er sich aber auch immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt. Dabei ging es vor allem um seinen als negativ empfundenen Spielstil – auch in der ersten Halbzeit gegen Dänemark hatte seine Mannschaft nur 25 Prozent Ballbesitz. McGinn lieferte aber schon im letzten Monat die passende Antwort darauf: „Würdet ihr es vorziehen, wenn wir einige Teams vom Platz fegen und dann aber wieder auf schottische Art verlieren?“
Clarkes Bilanz in der WM-Qualifikation ist für einen Trainer des 38. der FIFA-Weltrangliste und mit der weltweit 28-wertvollsten Nationalmannschaft herausragend. Der 62-Jährige verlor in 16 Partien nur zweimal bei elf Siegen und drei Remis. Macht einen Schnitt von 2,25 Zählern. Das WM-Ticket dürfte seine Kritiker nun erstmal verstummen lassen. Für die Fans sind er und die Mannschaft ohnehin neue Nationalhelden.

