Über Neururer, Calmund & Co.

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Zum Jahresausklang blicken wir zurück auf einige unserer Interview-Highlights des Jahres 2025. Im Februar veröffentlichten wir den Artikel zu unserem Gespräch mit Ex-Profi Paul Freier.
Wer an den deutschen Fußball der 2000er denkt, kommt an Paul Freier nicht vorbei. Über 350 Partien absolvierte der Flügelspieler in Bundes-. und 2. Liga, zeitweise galt er als großer Hoffnungsträger der Nationalmannschaft, und wahrscheinlich wären Anzahl und Erfolge noch größer ausgefallen, wenn sein Körper nicht in den entscheidenden Situationen gestreikt hätte. Bei Transfermarkt spricht der heutige Co-Trainer von Rot-Weiss Essen über seinen Durchbruch beim VfL Bochum, Gesundheitstipps von Peter Neururer, den Wechsel nach Leverkusen und die verpasste EM 2004.
Geboren im polnischen Bytom wanderte Paul Freier als Kind mit seiner Familie nach Deutschland aus. In dieser Zeit merkte er zum ersten Mal, welche verbindende und integrierende Funktion der Fußball besitzt, schließlich lernte er über ihn die deutsche Sprache. „Für mich ist Fußball die treibende Kraft für Integration und ein zusammenführendes Element. Wir sind damals ohne ein Wort Deutsch zu können in die Schule gekommen. Der Fußball hat dafür gesorgt, dass ich ganz schnell Anschluss gefunden habe. In jeder Pause habe ich mit den anderen Kindern Fußball gespielt und mit der Zeit hat man so Deutsch gelernt“, erinnert sich der ehemalige Bundesliga-Profi.
Freier kam über den BSV Menden in die Jugend des VfL Bochum, dabei hätte es ihn auch zu Borussia Dortmund verschlagen können: „Mit meinem Bruder war ich damals im Probetraining des BVB und wir haben auch durchaus überzeugt. Das Problem war nur, dass wir einen Fahrdienst gebraucht hätten, der uns abholt und wieder nach Hause bringt, da uns unser Vater (der polnische Ex-Profi Eugen Freier; Anm. d. Red.) aufgrund seiner Arbeitszeiten nicht nach Dortmund zum Training fahren konnte. Der BVB konnte das aber nicht realisieren und so hat es am Ende nicht geklappt.“
Paul Freiers Anfänge beim VfL Bochum mit Förderer Bernard Dietz
In Bochum sollte Freier bekanntlich seinen Weg gehen. An der Castroper Straße zeigte der Flügelspieler ziemlich schnell, welche großes Talent der Verein in seinen Reihen hat, zumal er neben dem großen sportlichen Potenzial auch frühzeitig elementare Dinge wie Disziplin an den Tag legte. „Um Profi zu werden sind aus meiner Sicht Werte wie Fleiß, Ehrgeiz, der absolute Wille, aber auch eine Form der Anstrengungsbereitschaft unabdingbar. Und man sollte bereit sein, auf Dinge zu verzichten. Zum Beispiel bin ich nicht auf Partys gegangen und habe mich entsprechend so verhalten, wie es sich für einen Profi gehört.“ Als wir ihn mit Nachdruck fragen, ob er wirklich nie über die Stränge geschlagen hat, gibt er lachend zu. „Na gut. Es gab auch Momente, in denen ich bei McDonalds gegessen oder mir eine Tüte Haribo gegönnt habe.“
Einer der den Rohdiamanten mit der Zeit förderte und so zu einem seiner größten Mentoren werden sollte, war Bernard Dietz. Der Europameister von 1980 gab dem damals jungen, schüchternen Paul Freier in der Zweitvertretung des VfL das Rüstzeug für den Profifußball an die Hand. Nachdem Dietz 1999 zum Interimstrainer der Profimannschaft ernannt wurde, nahm er seinen Schützling mit nach oben. „Zu Bernard Dietz habe ich aus verschiedenen Gründen aufgeschaut. Er hatte sich als aktiver Profi in der Bundesliga einen Namen gemacht und war Europameister geworden. Ziele, die ich natürlich auch erreichen wollte. Zudem war er in seinem Umgang mit den Spielern sehr authentisch. Zu mir hat er immer gesagt: ‚Slawo, arbeite hart und versuche jeden Tag besser zu werden, dann schaffst du es auch in die Bundesliga.‘ Dieses Credo hat mich meine Karriere begleitet“, sagt der heute 45-Jährige.

Paul Freier lief in zwei Etappen 289-mal für den VfL Bochum auf
Im November 1999 debütierte Freier mit 20 Jahren im Spiel gegen Waldhof Mannheim (2:0) für den damaligen Zweitligisten. Zwar nur für eine Minute, doch diese bedeutete für ihn die Welt: „Ich war so nervös und aufgeregt zugleich, mir hat es im ganzen Körper gekribbelt. Für mich ging ein Traum in Erfüllung. Tatsächlich habe ich mir das damalige Trikot aber nicht als Erinnerung aufgehoben. Generell war ich auch kein Trikotsammler-Typ. Die wenigen Trikots, die ich noch besitze, stehen bei mir in einem Karton im Keller. Das Einzige, welches in unserem Haus hängt, ist das von Raúl. Das hängt im Kinderzimmer meines Sohnes“, sagt der Ex-Profi schmunzelnd.
In der nachfolgenden Saison ließ Freier sein Potenzial immer wieder aufblitzen, doch wirklich durchstarten konnte er erst 2001/2002 – mit deutlichem Nachdruck. In den nachfolgenden Jahren wurde Freier beim VfL Bochum zu einer unverzichtbaren Größe, besonders aufgrund seiner Beidfüßigkeit und seinem großen technischen Repertoire. Als absoluter Leistungsträger hatte er mit sieben Saisontoren und sieben Vorlagen einen großen Anteil daran, dass der VfL die Rückkehr in die Bundesliga feiern durfte. Eine Quote, die er ein Jahr später im Fußball-Oberhaus übertrumpfte. Auch seine Scorer sorgten dafür, dass der Aufsteiger die Spielzeit als große Überraschung auf dem 9. Tabellenplatz abschloss.
Freiers große Schritte unter Neururer und ein Anruf von Völler
Über die Frage, ob es jemals das perfekte Spiel von ihm gab, muss er kurz nachdenken: „Was bedeutet perfekt? Jeder definiert perfekt anders. Ich hatte diesen unbändigen Ehrgeiz. Ich wollte mit jeder Trainingseinheit besser werden, deshalb habe ich mich auch nie zufriedengegeben. Aber annähernd an das perfekte Spiel kam meine Leistung gegen Bayer Leverkusen im DFB-Pokal in der Saison 2001/2002 (2:3; Anm. d. Red.) heran. Da ist mir wirklich fast alles gelungen, auch, wenn wir am Ende unglücklich verloren haben“, blickt Freier zurück.
Emotional besonders wichtig sei für ihn die Partie gegen Alemannia Aachen am letzten Spieltag der Zweitliga-Saison im selben Jahr gewesen: „Wir mussten gewinnen, um aufzusteigen. Am Ende haben wir es mit einem 3:1-Sieg geschafft. Die zweite Partie, die für mich ein absolutes Highlight darstellt, war unser Spiel gegen Hannover 96 am letzten Spieltag der Saison 2003/2004. Mit einem 3:1 haben wir den Einzug in den UEFA-Cup geschafft. Das war ein toller Moment.“
Neururer sagte immer nach Spielen: ‚Männer, ihr braucht mir nicht mit Cola ankommen. Cola ist ungesund. Trinkt lieber ein Bier, das ist gesund.‘
Verantwortlich für Freiers Entwicklung aber auch den Erfolg des VfL Bochum war zu dieser Zeit der heutige Kulttrainer Peter Neururer. Sein ehemaliger Schützling kommt bei den Erinnerungen an die gemeinsame Zusammenarbeit aus dem Schwärmen gar nicht heraus: „Peter ist absolut Kult und menschlich überragend. Ich erinnere mich noch an unser erstes Gespräch, in dem er gesagt hat. ‚Slawo, ich will, dass du ab sofort in jedes Eins-gegen-eins-Duell gehst, du kriegst die absolute Freiheit von mir.‘ Er hat einem Leichtigkeit und Optimismus vermittelt. Er wusste, wie man die Spieler packen kann“, so der heutige RWE-Co-Trainer, der sich in dem Augenblick lachend daran erinnert, was Neururer stets nach den Spielen sagte. „‚Männer, ihr braucht mir nicht mit Cola ankommen. Cola ist ungesund. Trinkt lieber ein Bier, das ist gesund.‘ Deshalb stand häufig eine Kiste Bier nach den Spielen in der Kabine.“

Paul Freier debütierte 2004 für die deutsche Nationalelf – als Zweitliga-Profi
Diese Zeit erlebte Freier wie im Flug, er schwebte auf der Erfolgswelle. Eine Erfolgswelle, die ihm sogar einen besonderen Anruf bescherte. Auf der anderen Seite der Leitung: der damalige DFB-Teamchef Rudi Völler. Als einer der wenigen Spieler in der DFB-Geschichte durfte Freier als Profi eines Zweitligisten in der Nationalmannschaft debütieren. An das Länderspiel gegen Kuwait (7:0) kann sich der 45-Jährige noch gut erinnern: „Das war ein absolut prägendes Ereignis für mich. Auf einmal ruft dich Rudi Völler, dein Kindheitsidol, an und lädt dich zur Nationalmannschaft ein. Und dir wird bewusst, dass dich fast ganz Deutschland am TV bewundert, weil du jetzt zu den ausgewählten Nationalspielern gehörst.“ Besonders beeindruckt habe ihn dort Bernd Schneider, „der weiße Brasilianer. Was er mit dem Ball anstellen konnte, war genial. Für mich war er zur damaligen Zeit der beste Fußballer in Deutschland“, betont der 19-malige Nationalspieler.
Auf einmal war Freier in aller Munde, wurde zum Idol vieler Kinder und Jugendlicher. Besonders an die Autogrammwünsche auf Hanuta/Duplo-Sticker erinnert er sich lachend: „Meine Bekanntheit hat mich tatsächlich auch überrascht, selbst im Urlaub wurde ich von Menschen erkannt und angesprochen. Ich bin jetzt nicht in den Supermarkt gerannt, um mir eine Packung Hanuta zu kaufen oder eine Tüte mit Panini-Stickern, aber ich fand es schon witzig, worauf ich auf einmal abgebildet wurde.“
Doch ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Karriere wurde er ausgebremst. Freier galt als potenzieller Stammspieler für die EM 2004 in Portugal, ein Innenbandriss zwang ihn aber zum Zuschauen: „Meine Familie hatte eigentlich eine Ferienwohnung gemietet, um live dabei zu sein. Daraus wurde bekanntlich nichts. Für mich war die verpasste EM viel schlimmer als die Verletzung an sich. Wenn man die gesamte Saison auf ein Ziel hinarbeitet und dann dieser Traum zerplatzt, hat man damit schon zu kämpfen.“

EM-Interview-Serie: 2004 mit Torsten Frings und Fredi Bobic (hier lesen!)
Warum Freier von Bochum zu Bayer statt BVB oder FC Bayern ging
Während die Nationalmannschaft bei der EM versagte, ackerte Freier in der Reha, um zurück auf den Platz zukommen. Zur Saison 2004/2005 sollte ein großer Schritt folgen: Vom VfL Bochum wechselte er für 3,5 Millionen Euro zu Bayer 04 Leverkusen – damals Rekord für den Revierklub (zur Statistik). Besonders an die Verhandlungen mit Reiner Calmund denkt er schmunzelnd zurück: „Ich weiß, dass damals Dortmund und die Bayern mich gerne verpflichtet hätten, aber bei Leverkusen hatte ich einfach das bessere Gefühl. Reiner Calmund hat sich sehr um mich bemüht. Er hatte auch diese gewisse Aura, die mich beeindruckt hat. Er wusste genau, wann er einen lockeren Spruch bringen muss und wann er professionell zu sein hat.“
Wenn er über die damalige Zeit spricht, merkt man das Funkeln in seinen Augen. Einen Lieblingsmitspieler kann er entsprechend gar nicht nennen. „Ich bin froh in einer Zeit gespielt zu haben, in der absolute Legenden den Fußball geprägt haben. Worauf ich gern zurückschaue, ist der damalige Zusammenhalt. Wir hatten keine Handys oder andere elektronische Mittel, also haben wir die Zeit mit Reden oder Kartenspielen verbracht. Ich erinnere mich an eine Situation in der Sergej Barbarez beim Spielen verloren hatte, den gesamten Kartenstapel aus dem Fenster geworfen hat und sich die Karten auf unseren Parkplatz verteilt haben. Wir hatten schon eine tolle Truppe beisammen.“
148 Partien absolvierte er für Bayer 04 Leverkusen, in denen er 18 Tore schoss und 30 Treffer auflegte. Besonders an die Champions-League-Partien 2004/05 wie gegen Real Madrid und den FC Liverpool erinnert er sich gern: „Von der Stimmung her war die Anfield Road (1:3; Anm. d. Red.) unglaublich. So etwas habe ich davor und danach nicht nochmal erlebt. Mein absolutes Highlight war natürlich unser 3:0-Sieg gegen Real Madrid, wobei ich in diesem Spiel den schlimmsten Gegenspieler meiner Karriere kennengelernt habe: Roberto Carlos. Er war schnell, robust, zweikampfstark. Um es mit deutlichen Worten zu sagen: Nach dem Spiel war ich richtig im Arsch“, lacht Freier, der nach seiner Zeit in Leverkusen nach Bochum zurückkehrte und dort bis 2014 unter Vertrag stand.
Wenn der heute 45-Jährige auf seine aktive Karriere und das damalige Zitat Peter Neururers, „In Deutschland gibt es kein größeres Talent als Paul Freier“, zurückblickt, muss er schmunzeln. „Die Aussage hat mich sehr geehrt. Natürlich hätte man noch mehr aus der Karriere herausholen können, aber ich blicke mit großer Dankbarkeit auf meine Laufbahn zurück, weil ich den Traum leben durfte, den ich mir als Kind erhofft hatte.“
Von Henrik Stadnischenko




