Bataclan: Als IS-Terroristen ihnen das Liebste nahmen, fanden sie sich

Bataclan: Als IS-Terroristen ihnen das Liebste nahmen, fanden sie sich

TTS-Player überspringen

Artikel weiterlesen

Paris/Lyon – Vor dem Notausgang des Bataclan pressen sich trotzig ein paar gelbköpfige Löwenzähne durch den rissigen Asphalt. Dort, wo vor zehn Jahren am „Vendredi noir“, dem Schwarzen Freitag, das Blut der Verwundeten und Sterbenden im Boden versickerte.

Die Bilder aus der Seitengasse, gefilmt von dem Anwohner und Journalisten Daniel Psenny, gingen damals um die Welt. Schreiende, panisch fliehende Konzertbesucher, die verzweifelt versuchten, schwer Getroffene aus der Gefahrenzone zu schleifen, Tote, eine Schwangere, die sich an einem Fenstersims in den oberen Stockwerken des Musiktheaters festklammerte.

Nichts erinnert hier heute an die Attentate von Paris am 13. November 2015, als mit Sprengstoffgürteln und Sturmgewehren ausgerüstete IS-Terroristen allein beim Konzert der „Eagles of Death Metal“ 89 Fans töteten. Insgesamt starben an mehreren Tatorten 130 Menschen, 413 wurden verletzt.

Heute steht an der Tür der Seitenstraße, in die sich viele Konzertbesucher flüchten konnten „Danke, dass Sie nciht gegen die Türen urlinieren“

Heute steht am Notausgang der Seitenstraße, in die sich viele Konzertbesucher flüchten konnten: „Danke, dass Sie nicht gegen die Türen urinieren.“

Der Terrorist schoss Maud direkt ins Herz

„Danke, dass Sie nicht gegen die Türen urinieren“, mahnt ein Schild an einem der seitlichen Bataclan-Ausgänge zum Anstand. Und wirkt gleichzeitig unanständig an dem Ort, aus dem auch der Deutsche Johannes, damals 42, dem Tod davonstolperte. Weg von den Kugeln der Terroristen. In ein neues Leben ohne seine Frau Maud (†37). Die blieb im Bataclan zurück, getroffen hinter der Bar. Sie hatte dort Schutz gesucht. Vergeblich: Ein Attentäter schoss in ihr Herz.

Johannes und Maud bei ihrer Hochzeit in Bayern, fünf Monate vor dem Terrror-Anschlag. Der deutsche Jurist beerdigte seine Frau in ihrem weißen Kleid

Johannes und Maud bei ihrer Hochzeit in Bayern, fünf Monate vor dem Terror-Anschlag. Der deutsche Jurist beerdigte seine Frau in ihrem weißen Kleid

Dieses große, sanftmütige Herz, in das sich der Jurist Johannes verliebt hatte. Er hatte sich mit der französischen Marketing-Managerin eine Pariser Wohnung und den Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft geteilt. Die Karten für die „Eagles of Death Metal“ waren sein Geschenk für sie. „Maud hatte aber keine Lust, schimpfte noch auf dem Weg dorthin, dass das doch gar nicht ihre Musik sei“, sagt Johannes. „Dann gefiel es ihr aber wider Erwarten richtig gut. Sie tanzte, ich sehe noch ihr strahlendes Gesicht. Plötzlich knallte es. Als wir verstanden, dass diese Knaller keine Feuerwerkskörper waren, sondern Schüsse, setzten sich alle in Bewegung. Ich wollte Mauds Hand nehmen, aber griff ins Leere. Das ist meine letzte Erinnerung an sie.“ Nach zeitlosen Momenten auf dem Boden des Bataclan steht Johannes in einem Impuls auf und folgt anderen Konzertgästen durch einen Notausgang ins Freie.

Drinnen, im Konzertsaal, lag der französische Lkw-Mechaniker Renaud (†29). Eine Kugel im Rücken, eine andere war über die Leiste ein- und am Kinn ausgetreten. Während die Rettungskräfte langsam anrückten, nachdem die Terroristen um 21.40 Uhr das Feuer auf die Tanzenden eröffnet hatten, wich immer mehr Leben aus ihm. Seine Verlobte Floriane zitterte in ihrem Versteck in einer Zwischendecke.

Floriane und Renaud (✝︎29) waren 12 Jahre zusammen. Die Konzerttickets für die Eagles of Death Metal hatten sie Renauds jüngerem Bruder zum 15. Geburtstag geschenkt. Es war sein erstes Konzert. Er überlebte

Floriane und Renaud (†29) waren 12 Jahre zusammen. Die Konzerttickets für die Eagles of Death Metal hatten sie Renauds jüngerem Bruder zum 15. Geburtstag geschenkt. Es war sein erstes Konzert. Er überlebte

„Die Konzerthalle war ein Massengrab, der Polizist sagte: ‚Schaut nicht hin‘“

Die damals 27-Jährige wurde weit nach Mitternacht als eine der Letzten von der Spezialeinheit „BRI“ aus dem Musiktheater gerettet. Zusammen mit etwa 40 anderen hatte sie sich über ein Loch in der Decke einer Toilette im Gebälk über dem Saal verkrochen. Sie erinnert sich: „‚Schaut nicht hin!‘, sagte einer der Polizisten. Ich zog meinen Schal über den Kopf. Die ganze Konzerthalle war ein Massengrab. Ich konnte nicht anders: Meine Augen suchten nach Renaud. Überall waren Fleischstücke, sogar an der Leiter, an der wir runtersteigen mussten. Ich wollte meine Hand nicht dorthinlegen, aber ich hatte keine Wahl.“

Renaud war zu dem Zeitpunkt schon abtransportiert worden. Er starb um fünf Uhr morgens im Krankenhaus. Allein. Ohne sie, die 12 Jahre an seiner Seite war und alles mit ihm geteilt hatte.

Nach der Evakuierung durch die Spezialeinheiten aus dem Bataclan wurden die Überlebenden in Bussen zur Polizei gebracht. Florianes Profil (Ausschnitt links) ist hinter dem schwarzen Balken zu sehen

Nach der Evakuierung durch die Spezialeinheiten aus dem Bataclan wurden die Überlebenden in Bussen zur Polizei gebracht. Florianes Profil (Ausschnitt links) ist hinter dem schwarzen Balken zu sehen

Aus dieser Tragödie, diesen vier Schicksalen, ist in den letzten zehn Jahren zwischen den beiden Überlebenden Johannes und Floriane etwas gewachsen, gleich dem Löwenzahn aus dem schmutzigen Pariser Trottoir.

Ihre Geschichte begann am 13. Dezember 2015, genau vier Wochen nach dem Anschlag, mit einem Post in einer Facebook-Gruppe von Betroffenen. Floriane hinterließ dort für Renaud eine Art „Flaschenpost“, wie sie sagt. Sie schrieb, wie sehr er ihr fehle, dass sie mit niemandem über das Erlebte sprechen könne. Nur zu ihm, am Abend, bevor sie einschläft. Johannes nahm die Flaschenpost auf. Er antwortete: „Ich habe meine Frau im Bataclan verloren … Was mich weitermachen lässt, ist, dass ich doch jetzt nicht aufgeben kann. Sonst hätte ich drinnen bleiben sollen. Ich denke an dich.“

Johannes brachte ihr Brautkleid zum Bestatter

Sie tauschten Nachrichten aus, verabredeten sich bei einem Italiener in der Nähe der „Pont Neuf“ an der Seine. Es war das erste Mal, dass Floriane nach dem Anschlag wagte, die U-Bahn zu nehmen. Die beiden redeten – bis das Lokal schloss.

Erst war es eine ganz zarte Pflanze, nur die Verbindung, dass der andere das Unbegreifliche nachfühlen kann. Ein Umarmen zweier Ertrinkender, die versuchen, sich gegenseitig über Wasser zu halten. Johannes beerdigte Maud in ihrem Brautkleid, das sie fünf Monate zuvor noch getragen hatte, zu ihrer Traumhochzeit auf einem alten Schloss in Bayern. Floriane hatte sich 14 Tage vor dem Konzertbesuch das weiße Kleid für den schönsten Tag ihres Lebens gekauft. Danach, erzählt sie, wollten Renaud und sie eine Familie gründen.

Als die Terroristen mordeten, machten sie Witze

„Wenn du beobachtest, wie feixende Terroristen vor deinen Augen Menschen ermorden, die für dich oder andere das Leben waren, dann gibt es wenige, die genau verstehen können, wie hart es ist, weiterzumachen“, erklärt Floriane. Zu Beginn, so sagen die Interior-Designerin und der international tätige Jurist, war es tatsächlich nur das: einander einen Grund geben, morgens wieder aufzustehen. Nicht aufzugeben, was an vielen Tagen so verlockend und „der zunächst viel einfachere Weg“ schien, wie Johannes sagt.

Im Oktober 2017 heiraten Johannes und Floriane. Mehdi (links), Johannes bester Freund, war schon Trauzeuge bei der Hochzeit mit Maud. Auf der Party verkünden sie die Schwangerschaft mit Bérénice

Im Oktober 2017 heiraten Johannes und Floriane. Mehdi (links), Johannes’ bester Freund, war schon Trauzeuge bei der Hochzeit mit Maud. Auf der Party verkünden sie die Schwangerschaft mit Bérénice

Dann bekam die Pflanze erste eigene Triebe, winzig klein. Manche fielen wieder ab. Da waren Eifersucht, nicht erzählte Träume vom verstorbenen Partner, die Angst, zweite Wahl zu sein. Und viele Schuldgefühle. Schuld, überlebt zu haben, Schuld den Familien der verstorbenen Partner gegenüber, Schuld, wieder nach Glück zu streben. Sie kämpften, hinterfragten und versuchen jeden Tag aufs Neue, aktiv herauszutreten aus der Opferrolle, aufeinander zu.

Der Name der ersten Tochter bedeutet „Die, die den Sieg bringt“

Schließlich wuchsen erste Blätter und dann eine wunderschöne Blüte: Bérénice (7), die erste Tochter. Ihr Name bedeutet „die, die den Sieg bringt“. Drei Jahre später kam die kleine Madeline (4) zur Welt.

Heute hat die Pflanze dicke Wurzeln. Das wird deutlich, wenn man Johannes und Floriane beobachtet. Wir sind zu ihnen gefahren nach Frankreich. Die liebevollen Berührungen, die kleinen Küsse zwischendurch, die Wärme ihres Zuhauses: Sie haben es geschafft, sich ein „Danach“ zu erkämpfen. So viele hatten nicht die Chance dazu. Und manche Seelen waren zu schwer verwundet. Erst vergangenes Jahr beendete ein Bataclan-„Überlebender“ selbst sein Leben. Achteinhalb Jahre nach dem Terror.

BILD-Reporterinnen Katharina Render und Christin Wahl zu Besuch im neuen Zuhause bei Johannes und Floriane. Vor drei Jahren sind sie weggezogen aus Paris. In ein friedliches kleines Bergdorf bei Lyon

Die BILD-Reporterinnen Katharina Render und Christin Wahl zu Besuch im neuen Zuhause von Johannes und Floriane. Vor drei Jahren sind sie weggezogen aus Paris. In ein friedliches kleines Bergdorf bei Lyon

Johannes und Floriane heilen gemeinsam und manchmal auch jeder für sich. Die Erinnerungen an Maud und Renaud im Herzen, in einem Ordner, einer Fotokiste und unter der Haut. Floriane hat eine kleine Tätowierung in Form eines Fuchses. Auf Französisch heißt Fuchs „Renard“, klingt fast wie Renaud. Die Mädchen finden das hübsch. Sie wissen, dass es eine andere Madame und einen Monsieur gab, bevor Mama und Papa sich kennengelernt haben. Und dass böse Menschen sie ihnen weggenommen haben. Mehr Fragen haben sie dazu noch nicht gestellt. Und das finden ihre Eltern erst mal richtig so.

Floriane und Johannes haben viele Fortschritte gemacht beim Aufbau einer neuen Welt. Kein Zusammenzucken mehr, wenn ein Betrunkener eine Metallstange gegen ein Garagentor schlägt, kein vorsichtiges Umschauen mehr in der U-Bahn, keine instinktive Suche mehr nach Notausgängen. Sie haben auch Paris vor einem Jahr den Rücken gekehrt und leben nun in den Bergen in der Nähe von Lyon. Unter ihrem Häuschen, einem alten Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert mit einem riesigen Garten, weiden Kühe. Das Bimmeln ihrer Glocken wechselt sich ab mit dem Glucksen der Kinder, die im Herbstlaub toben. Sonst herrscht hier Stille.

Sie haben es geschafft: ein zweites Leben, eine zweite große Liebe, zwei Mädchen, eine gemeinsame Zukunft

Sie haben es geschafft: ein zweites Leben, eine zweite große Liebe, zwei Mädchen, eine gemeinsame Zukunft

Am Haus Nr. 50 am Boulevard Voltaire in Paris hingegen, wo das Bataclan steht, rasen heute Abend Autos und Roller vorbei. Jemand klopft in einem hallenden Hinterhof seine Schuhe aus. Wir zucken zusammen. Paff, paff, paff – fast klingt das wie dumpfe Schüsse. Alle paar Minuten ertönen Sirenen.

Zehn Jahre nach dem Attentat fuhren BILD-Reporter noch einmal zum Bataclan (Das Haus mit dem blauen Schriftzug hinten im Foto) und legten Blumen nieder an der Gedenktafel, auf der auch Renauds und Mauds Namen stehen

Zehn Jahre nach dem Attentat fuhren BILD-Reporter noch einmal zum Bataclan (das Haus mit dem blauen Schriftzug hinten im Foto) und legten Blumen nieder an der Gedenktafel. Für Renaud und Maud

Johannes und Floriane haben es nicht geschafft, uns Reporter noch einmal dorthin zu begleiten, um zur marmornen Gedenktafel mit den Namen von Maud, Renaud und den erschreckend vielen anderen zu gehen, in einer Parkanlage ein paar Meter vom Bataclan entfernt. Kurz vor unserer Verabredung in Paris sagt Johannes ab. Vielleicht können Zeit und vor allem Liebe wirklich Wunden heilen, aber die Risskanten – auch wenn an ihnen viele neue Glücksmomente wachsen können – sie bleiben verletzlich.

MIt den Familien ihrer verstorbenen Partner haben Floriane und Johannes Kontakt gehalten. Auch wenn das für alle Beteiligten nicht immer leicht war und ist

Mit den Familien ihrer verstorbenen Partner haben Floriane und Johannes Kontakt gehalten. Sie freuen sich mit ihnen über ihr Glück, auch wenn das für alle Beteiligten nicht immer leicht war und ist

Hier, an dieser pulsierenden Verkehrsader der französischen Metropole, wurde das erste Leben von Floriane und Johannes brutal gestoppt. Der französische Philosoph Voltaire, dem der Name der Straße gewidmet ist, schrieb einst angesichts des Leides in der Welt: „Man muss seinen Garten bestellen“. Er war überzeugt davon, dass man das Böse auf Erden nicht wegdiskutieren kann. Aber praktisch handeln, um sein eigenes Leben zu verbessern. Der Garten ist zugleich äußere und innere Welt. Voltaire wusste: Wer Ordnung und Sinn im Kleinen schafft, schafft auch Frieden.

Die Täter sollen keine Aufmerksamkeit bekommen

Johannes und Floriane möchten nicht über die Attentäter sprechen, die ihren Sinn nicht im Diesseits sahen, die sich verleiten ließen zu glauben, dass einen das Töten anderer ins Paradies oder einen Märtyrerstatus bringe. Eines würde sie aber freuen: „Wenn unsere Geschichte irgendjemandem Hoffnung geben könnte, dem der Terrorismus oder die Tragik des Lebens allgemein Angst macht, wäre das wundervoll. Noch besser: Wenn einer, der Gefahr läuft, so einen Akt der (Selbst-)Zerstörung als beste Lebensalternative zu sehen, inspiriert werden würde, das Positive in seiner Situation zu sehen, und wenn er anfangen würde, kleine Schritte in die richtige Richtung zu machen.“

Zeit kann Wunden heilen. Die Familie mit ihrem Hund Velvet (1)

Zeit kann Wunden heilen. Die Familie mit ihrem Hund Velvet (1)

In ihrem zweiten Leben stehen Johannes, Floriane und die Kinder vor einem ihrer Bäume und ernten Quitten. Sie haben ihren Garten bestellt, gelernt, das Nützliche und Schöne gedeihen zu lassen, dem Natürlichen seinen Raum zu geben. Oder wie Johannes es am Ende unseres Besuches in ihrem Bergdorf formuliert: „Es hat gut getan, mit euch zu reden. Es ist, als fiele mit jedem ausgesprochenen Wort ein bisschen totes Holz von der Seele.“

Weiterlesen

Weitere Nachrichten

Haaland und Sørloth schießen Norwegen fast sicher zur WM

Ronaldo sieht Rot  ©IMAGO Angeführt von den Doppelpackern Erling Haaland und Alexander Sørloth steht die norwegische Fußball-Nationalmannschaft nach einem Heimsieg über Estland dicht vor dem direkten Ticket für die WM im kommenden Jahr. Frankreich qualifizierte sich...

mehr lesen