Blood Orange, Big Thief, Jehnny Beth, Lucrecia Dalt: Abgehört

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Musiker Blood Orange: Durchatmen in britischen Landschaften

Musiker Blood Orange: Durchatmen in britischen Landschaften


Foto:

Vinca Petersen / Sony Music


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Album der Woche:

Blood Orange – »Essex Honey«

Erst denkt man, es geht um einen Abschied von Amerika: »In Deiner Anmut suchte ich nach einem Sinn«, sinniert Devonté »Dev« Hynes im ersten Song seines neuen Albums, »aber ich fand keinen, und ich suche immer noch nach der Wahrheit«. »Look at You« heißt das Stück, »Sieh‘ dich an«, so könnte man das übersetzen. Es falle schwer, Dich anzugucken, wie Du verfällst, heißt es weiter im Text. Ist damit die Wahlheimat des britischen Songwriters und Musikers gemeint, deren Demokratie und Würde unter Trump zu erodieren droht?

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Zu Beginn seiner Karriere reiste Hynes nach Nebraska, um dort sein erstes, von US-amerikanischer Rockmusik geprägtes Album aufzunehmen – damals unter dem Namen Lightspeed Champion. Später, in den Zehnerjahren, illustrierte Hynes als Blood Orange mit dem Album-Triple »Cupid Deluxe«, »Freetown Sound« und »Negro Swan«, mit sensiblem R&B und sanftem, intellektuellem Dance-Pop, das euphorische, lebenspralle, aber immer auch disparate, nervöse Lebensgefühl junger, queerer New Yorker.

Hynes wurde neben Frank Ocean, Solange Knowles, Kendrick Lamar und einigen anderen Hip-Hop- und Neo-R&B-Acts zur musikalischen Stimme eines um gesellschaftlichen Fortschritt ringenden Jahrzehnts, in dem der Begriff »Wokeness« noch kein Schimpfwort war. Als gefragter Produzent und Autor arbeitete er für so diverse Bands und Künstler wie A$AP Rocky, Blondie oder die Hardcore-Gruppe Turnstile. Die GenZ machte einen seiner frühen Songs, »Champagne Coast« von 2011, vor Kurzem zum TikTok-Meme.

Sechs Jahre nach dem Mixtape »Angel’s Pulse«, einigen Soundtrack-Arbeiten, Produktionsjobs und einer EP von 2022 kehrt Hynes nun mit seinem fünften Album unter dem Namen Blood Orange zurück. Zurück in seine Heimat England, um genau zu sein, denn »Essex Honey« mag auch eine Art Abkehr von Amerika sein, vor allem aber ist es, das wird beim Hören von Songs wie »The Last of England« schnell klar, ein Abschied von seiner Kindheit, aber auch von der Trauer nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 2023. Gleich mehrfach kommt auf dem Album die Zeile »I don’t want to be here anymore« vor, aber meint das eine Flucht vor einem Ort, England oder USA? Oder eher ein Entkommen aus dem Kummer, der natürlich ein privater ebenso wie ein globaler Weltschmerz sein kann?

Hynes, 1985 geborenes Kind einer Guyanerin und eines kreolischen Vaters aus Sierra Leone, wuchs in Ilford im Osten Londons auf, einem Stadtteil, der früher zur Grafschaft Essex gehörte, bevor er in den Sechzigerjahren von der Metropole geschluckt wurde. Die Songs des Albums spüren der Musik, den Geschmäckern und Geräuschen aus Hynes‘ Erinnerungen nach, als würde er, tief in Stimmungen und Gedanken versunken, bei diffusem Spätsommerlicht auf dem Dachboden sitzen und in alten Foto-Alben blättern, den Staubgeruch nie wieder ausgepackter Krimskramskisten in der Nase.

Beim Browsen durch die Vergangenheit fallen ihm auch alte Platten aus seiner Jugend in die Hände, von The Durutti Column zum Beispiel, deren »Sing to Me« er in »The Field« zitiert, von den Replacements, deren Song »Alex Chilton« er im passenderweise »Westerberg« betitelten Song verwebt – Paul Westerberg hieß der Sänger der US-Rockband. An anderer Stelle wird eher leichterer Dancepop aus den Achtziger- und Neunzigerjahren mit Drums, Bässen und Rhythmen evoziert: Everything But The Girl, P.M. Dawn, Massive Attack.

Die Lieder sind wie Collagen, die Hynes aus seiner frühen Prägung channelt. Kaum eines der Stücke endet musikalisch dort, wo er begonnen hat, durch die Tempi- und Tonart-Wechseln leiten Saxofon-Passagen oder Cello-Intermezzi. Alles fließt ineinander wie bei einer verträumten Sonntagnachmittagsfahrt aufs Land, wenn die Stimmen im Wageninneren mit der Musik aus dem Radio und den eigenen Gedanken zu einem eigensinnigen, sprunghaften, aber harmonischen Flow verschwimmen. Es ist ein abgeklärter, zugleich aber unmittelbar berührender, intimer Lebens-Jazz, an dem Hynes sein Publikum teilnehmen lässt. Seine bisherige Karriere verlief stilistisch so divers, dass man zögert, »Essex Honey« als sein vielleicht bestes Blood-Orange-Album zu loben. Es ist ein erster, eindrucksvoller Höhepunkt in diesem noch neuen Abschnitt seines Schaffens – und definitiv eines der herausragenden Pop-Alben dieses Jahres.

Musiker Hynes: Meisterliche Nonchalance

Musiker Hynes: Meisterliche Nonchalance


Foto: Vinca Petersen / Sony Music

Aber es gibt auch Gewohnheiten, an denen man sich festhalten kann. Dazu gehören die Grooves und Soul-Vibes, die Hynes mit meisterlicher Nonchalance noch in die melancholischsten, erdschwersten Stücke integriert. Zudem ist auch diese private Trauerbewältigung offen dafür, zum allgemeingültigen Chor zu werden, wie schon die Zehnerjahre-Alben von Blood Orange, die bei aller Privatheit immer auch eine vielstimmige Oral History waren. Indiepop-Sängerin Caroline Polachek ist gleich mehrfach dabei, zu den Gästen zählen aber auch Lorde, der kanadisch-sudanesische Songwriter Mustafa und die aus Guatemala stammende Cellistin Mabe Fratti.

Zusammen erschaffen sie einige der schönsten Popsongs dieses Jahres, darunter »The Field«, »Countryside« und »Mind Loaded«. Sie wirken im ersten Moment so komplex konstruiert und fragil, dass sich ihre tröstlich-robuste, zum Atmen oder Tanzen in sanft geschwungenen britischen Landschaften einladende Resilienz erst beim zweiten oder dritten Endlosplay erschließt. Einmal zu voller Größe und Wirkmacht entfaltet, umarmen sie einen wie bittersüßer Honig für die Seele. (9.5/10)

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Kurz Abgehört:

Big Thief – »Double Infinity«

Wenn dir das Leben Limetten gibt – mach Limonade draus. Oder das absurdeste Cover-Artwork des Jahres: es zeigt eine der tiefgrünen Früchte als Planeten, der von abgepulten Schalenringen umgeben ist. Der britische »Guardian« jubelte in seiner Rezension des neuen Big-Thief-Albums bereits, dass es das Zeug habe, den verlorenen Glauben an Humanismus und das Gute im Menschen wiederherzustellen. Tatsächlich versteht es die am Berklee College ausgebildete Band aus Brooklyn immer perfekter, ihre präzise komponierte Folkmusik so spontan und luftdurchlässig klingen zu lassen, als sei sie kurz nach dem Aufstehen bei einer Jam-Session im sonnendurchfluteten Wohnzimmer einer Hippie-WG entstanden.

»Double Infinity« ist griffiger und zuversichtlicher als das meisterliche Doppelalbum »Dragon New Warm Mountain I Believe in You« von 2022. Die brüchige Introvertiertheit des Solo-Albums, das Sängerin Adrienne Lenker seither veröffentlicht hat, weicht einem wieder zupackenderen Folkrock, den die längst über Indie-Kreise hinaus populäre Band auch vom Lagerfeuer-Intimität zu Stadionmacht variieren könnte, wenn nötig. In den Songs geht es um die Akzeptanz des Älterwerdens (»Grandmother«), Nachsinnen über vergangene Liebesbeziehungen, manchmal im lakonischen Lou-Reed-Stil (»Los Angeles«) oder eine Vision einer von Geschichtslast, Identitätspolitik und Nationalstaaten befreiten Welt (»No Fear«): »There is nowhere/ No table, no chair, no country«, singt Lenker darin. Peace! Aber man wäre interessiert, was Max Oleartchik zu dieser Utopie sagt: Der aus Israel stammende Bassist, Gründungsmitglied von Big Thief, verließ die Band 2024 angeblich aus »zwischenmenschlichen Gründen«. Adrienne Lenker setzte sich nach dem 7. Oktober immer wieder öffentlich für einen Waffenstillstand in Gaza ein. Auch die süßeste Folk-Limo hat halt manchmal noch saure Noten. (7.7/10)

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Jehnny Beth – »You Heartbreaker, You«

Sind wirklich fünf Jahre seit dem letzten Album von Jehnny Beth vergangen? Kaum zu glauben, denn ihr zorniger Machismo-Abgesang »I’m The Man« hallt immer noch gellend genug nach. Zwischendurch startete die französische Musikerin, die eigentlich Camille Berthomier heißt, eine erfolgreiche Karriere als Schauspielerin, trat unter anderem neben Sandra Hüller im Justizthriller »Anatomie eines Falls« auf und spielte im Arthouse-Beziehungsdrama »Wo in Paris die Sonne aufgeht« von Jacques Audiard mit. Aber man darf nicht vergessen, dass Jehnny Beth einmal einer Band vorstand, die sich selbstbewusst »die Wilden« nannte, Savages. Das heißt, wenn es um Musik geht, dann bleibt es brutal.

»You Heartbreaker, You« – den Titel inspirierten feministische Revenge-Tags und -Sticker – soll ein lautstarkes Aufbegehren gegen die lähmende Negativität sein, die uns seit Jahren ummantelt und immer depressiver macht, gebrochene Existenzen, die unter »High Resoluton Sadness« leiden, wie ein besonders hart knüppelndes Stück heißt. »We learn to live with a broken rib«, heißt es brüllend im ersten Song, so bedrohlich und dräuend wie eine dieser sinistren Wut-Hymnen von Tool aus den Neunzigerjahren. Überhaupt bleibt Jehnny Beth bei ihrem so eindrucksvollen wie erbarmungslosen Anger Management diesem musikalischen Jahrzehnt treu, wenn neben Hardcore, Metal und Punk immer wieder auch der prägende Industrial-Rock von Nine Inch Nails durchklingt. She’s the man. (8.0/10)

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Lucrecia Dalt – »A Danger to Ourselves«

Nach über 20 Jahren aufregender Arbeit in der Nische experimenteller Elektronik mit lateinamerikanischem Einschlag kam für die in Berlin lebende Kolumbianerin Lucrecia Dalt 2022 endlich ein Durchbruch: Ihr aus der Perspektive einer Alien-Frau erzähltes, in zahlreichen Latin-Stilen elegant funkelndes und groovendes Album »¡Ay!«  wurde von der Musikpresse begeistert gefeiert. Aber was heißt endlich? »Ich denke nicht darüber nach, einen Hit zu schreiben«, sagte Dalt kürzlich in einem Interview. Gerade deswegen – oder trotzdem – könnte »A Danger to Ourselves« nun ein noch größerer Erfolg als »¡Ay!« werden.

Die Texte beschäftigen sich mit Liebe und deren Transzendenz, vor allem, wenn sie misslingt. Erzählt werden sie von einer Art lebensmüden femme fatale, die gleich im ersten Stück »Cosa Rara« in einen offenbar tödlichen Autounfall gerät. Den Rest des Songs erzählt dann mit sonorer, David-Lynch-artiger Stimme, Artpop-Legende David Sylvian, der das Album auch koproduziert hat. Eine sinnliche, aber auch sinistre Stimmung zieht sich durch träge, mit klappernden, scheppernden, schleifenden Industrial-Geräuschen ausgestattete Reggaeton-Zeitlupen wie »Caes« oder »Mala Sangre«, bei denen man sich von Jim Jarmusch gedrehte Szenen eines kolumbianischen Noir-Krimis vorstellt. »Don’t call me a snake/ And I’m not a reptile/ But i’ll cut my stare on your sweet gaze«, droht Dalt einmal jedem, der ihren neuen, anschmiegsamen Pop-Appeal mit Harmlosigkeit verwechseln will. Gefährlich gut. (8.5/10)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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