Adam-und-Eva-Darstellung bei Hendrick Goltzius (»Der Sündenfall«, 1616)
Hendrick Goltzius / Heritage Art / Heritage Images / picture alliance
Adam-und-Eva-Darstellung bei Hendrick Goltzius (»Der Sündenfall«, 1616)
Hendrick Goltzius / Heritage Art / Heritage Images / picture alliance
Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Jene Dame in Schwarz, welche Mittwoch den 12. d. M. ½6 Uhr Abends mittelst Schnellfahrer vom Stefansplatz zur Südbahn fuhr, wird von dem Herrn, welcher der Dame ein Paquet beim Aussteigen aus dem Wagen überreicht, gebeten, wenn ein ehrb. Wiedersehen gestattet, dies unter »Gottes Fügung 2793« gütigst an die Exp. bekanntzugeben.
– Kontaktanzeige aus dem Neuen Wiener Tagblatt v. 19. November 1884
Ernest Hemingway, den viele für seinen scheinbar schmucklosen, lakonischen Stil bewundern, gilt als Erfinder der flash fiction. Während eines Mittagessens, heißt es, habe er mit dem Tisch um je 10 Dollar gewettet, dass er eine Geschichte in nur sechs Wörtern erzählen könne.
Dann nahm er einen Stift und schrieb auf eine Serviette: »For sale: baby shoes, never worn« (Zu verkaufen: Babyschuhe, nie getragen).
Unter Hemingway-Forschern gibt es Zweifel, ob diese Geschichte wirklich wahr ist. Zweifelsfrei hingegen ist, dass ein Publikum nur wenige Informationen braucht, um sie zu einer sinnvollen Geschichte zu verbinden.
So gesehen ist die Anzeige aus dem Neuen Wiener Tagblatt vom November 1884 ein erzählerisches Meisterwerk. Ein Kurzroman auf kaum acht Zeitungszeilen, der Beginn und vielleicht auch schon das Ende von etwas, eine Liebesgeschichte, vielleicht ein Drama: genug, um die Neugier anzustoßen, zu wenig, um sie zu befriedigen.
Ein Mittwochabend im November. Ein Mann, der offenbar ungebunden ist; eine Unbekannte mit unklarem Beziehungsstatus; eine Begegnung im Wiener Stadtverkehr – in Hollywood haben sie aus solchen Konstellationen zwei komplette Genres gemacht: den Liebesfilm, bei dem sich am Ende alles wundersam fügt, und das Melodram, bei dem weit vor dem Happy End das Schicksal aus den Kulissen tritt.
Eine Dame in Schwarz also. Ist sie in Trauer? Verwitwet? Hat der Tod des Partners sie frei gemacht für eine neue Verbindung? Oder signalisiert das Schwarz ihrer Kleidung, dass es sich nicht schickt, sie anzusprechen, ihr ein ehrbares Wiedersehen anzutragen?
Vom Stefansplatz geht es hinaus zur Südbahn. Fährt sie nach Hause? Macht sie einen Besuch? Enthält das Paket ein Brautkleid? Oder ein Paar nie getragene Babyschuhe? Oder trägt sie die Last nur, um sich von Herren im heiratsfähigen Alter beim Ein- und Aussteigen helfen zu lassen?
Einen Partner zu finden, ist schwer. Arthur Schopenhauer, selbst sein Leben lang unverheiratet, beschrieb in »Die Welt als Wille und Vorstellung« die Verwicklungen, die die Liebe anrichtet, um dann zur Pointe anzusetzen:
»Wozu der Lerm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Noth? Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grethe finde.«
Schwer genug. Leicht hatten es nur Adam und Eva, im Buch Genesis, Kapitel 2, Vers 22 kann man nachlesen, wie sie zusammenkamen: »Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.«
Mühsam ist es für alle, die danach geboren wurden. Eine Begegnung am 12. des Monats, eine Zeitungsnotiz am 19. – eine ganze Woche ist vergangen, bis der Entschluss zur Annonce gefallen, die Anzeige formuliert, aufgegeben, glücklich gedruckt ist. Eine rauschhafte Ewigkeit, in der alles Hoffnung, Erwartung, Hochgefühl ist.
Und jene Dame in Schwarz? Niemand weiß, ob sie diese Anzeige gelesen, ob sie jemals geantwortet hat. Ob sie sich an den Fremden, der ihr mit dem »Paquet« half, erinnert hat, möglicherweise sogar: wehmütig?
Natürlich wüsste man gern, ob sich die beiden, durch Gottes Fügung oder durch tätige Mithilfe der »Expedition«, wiedergesehen haben. Oder ob sie am Ende doch einen anderen fanden – und ganz selten, an dunklen Novembertagen beispielsweise, noch an jenen verzauberten Augenblick am Schnellfahrer dachten, wo ein Paket beinahe eine Ehe gestiftet hätte.
Und beide, getrennt voneinander durch die Umstände, hofften dann für einen Moment darauf, dass unter Gottes Fügung ein Wiedersehen immer noch möglich sein könnte – bis ihnen dämmerte, dass Gottes Interesse an ihnen für genau dieses eine Wunder reichte: den Augenblick an der Schnellbahn.
»Während er unter der drückenden Kuppel dieser stets erregten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird« – auch das eine Wiener Geschichte, Franz Werfels »Blassblaue Frauenschrift« diesmal, schon sehr traurig, all die knapp verpassten Gelegenheiten.
Aber auch sehr schön.
Deutschland wird nach Angaben von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) die beiden freigelassenen belarussischen Oppositionellen Maria Kalesnikava und Viktor Babariko aufnehmen.Es handele sich um »zwei der herausragenden Persönlichkeiten« der Demokratiebewegung...
Helfen Sie uns, besser zu werden © Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL Haben Sie einen Fehler im Text gefunden, auf den Sie uns hinweisen wollen? Oder gibt es ein technisches Problem? Melden Sie sich gern mit Ihrem Anliegen. Redaktionellen Fehler melden Technisches...
Der Hollywood-Schauspieler Timothée Chalamet sorgt derzeit für Aufsehen weit über die Filmwelt hinaus. Fans spekulieren schon seit einer Weile, dass der 29-Jährige hinter dem anonymen britischen Rapper EsDeeKid stecken könnte – und eine ausweichende Antwort von...