London – Tommy Robinson ist nicht unbedingt das, was man sich unter einem britischen Gentleman vorstellt. Früher war er ein Hooligan und prügelte sich am Wochenende mit den Fans anderer Fußball-Clubs.
Fünfmal saß der 42-Jährige bereits im Gefängnis. Menschen, die er kaum kennt, nennt er „Bruder“ – den britischen Premierminister Keir Starmer einen „Drecksack“. In der britischen Presse galt der langjährige Anti-Islam-Aktivist immer als etwas zwischen rechtsextremem Schläger und Staatsfeind Nummer 1, ein politisches Schmuddelkind ohne Erfolgsaussichten.
Kein Wunder: Großbritanniens politische Elite speist sich seit Jahrhunderten aus einer Handvoll ausgesuchter Spitzenuniversitäten. Tommy Robinson, der eigentlich Stephen Yaxley heißt und sich den Namen einer Hooligan-Größe geliehen hat, begann seine politische Laufbahn in der Fußball-Fanszene einer kleinen Arbeiterstadt.
Doch die Zeiten in der ältesten Demokratie der Welt haben sich geändert.
Robinson sieht das britische Volk am „Siedepunkt“. Kritiker werfen ihm vor, dass er die Stimmung gegen Migranten immer weiter anheizt
Am vergangenen Wochenende führte Robinson 150.000 Briten auf die Straße, um im Herzen Londons gegen die Politik der Regierung zu demonstrieren. Der Aufmarsch ist das bis dato deutlichste Signal der massiven Unzufriedenheit der britischen Bevölkerung mit dem Migrationskurs der aktuellen Regierung und ihrer Vorgänger. Und plötzlich geben selbst linke Minister zu, dass Robinson bei den Bürgern einen Nerv trifft.
In Großbritannien spricht man von Weimarer Verhältnissen
Wer ist der Mann, dem plötzlich Hunderttausende Briten folgen? Und was ist auf der Insel los, dass von Weimarer Verhältnissen die Rede ist und ein Ex-Hooligan zur Stimme der Massen wird?
Der kleine, aber bullige Robinson betritt den Pub wie einen Boxring, geht direkt an den Tresen und bestellt sich: eine heiße Schokolade. Er hat den Treffpunkt ausgesucht. Es ist ein Hotel mit angeschlossener Kneipe in einer Kleinstadt nahe London. Er bittet darum, dass der genaue Ort nicht genannt wird, „um die Ecke“ wohnten seine Kinder. Robinson kommt alleine, ohne Tross und: ohne Leibwächter. Die braucht er nicht, sagt er: „Wozu? Jetzt sehen es alle Menschen so wie ich.“
► Sein Beweis ist die Kundgebung am Wochenende. Die offizielle Teilnehmerzahl bestreitet er. Wer die Drohnenaufnahmen mit anderen Großdemonstrationen vergleiche, merke schnell, dass es „Millionen“ waren. „Das war die größte Demonstration in der Geschichte Großbritanniens“, sagt Robinson und ist sich wie bei fast allen seiner Thesen zu 100 Prozent sicher. „Das war eine Machtdemonstration des britischen Volkes, eine Botschaft an das Establishment.“
Bei Robinsons Aufmarsch wurden auch Polizeibeamte verletzt
Robinsons Botschaft ähnelt den Botschaften vieler rechter Aktivisten und Politiker in Europa und den USA. Es geht um Identität und Nationalstolz, die Macht der sogenannten Eliten, die angeblich stumme Mehrheit und – vor allem – um Migrationspolitik.
Robinson brachte Tausende Demonstranten auf die Straße
Ausgerechnet die Konservativen haben der Insel die größte Einwanderungswelle ihrer Geschichte eingebracht. Die Briten nennen sie „Boris-Welle“, nach dem früheren Premierminister Boris Johnson, der ihnen versprochen hatte, mit dem Brexit auch die Kontrolle über die Grenzen wiederzuerlangen. Rund vier Prozent der Insel-Bewohner sind in den vergangenen vier Jahren eingewandert. Experten sprechen von einer nie dagewesenen Bevölkerungsexplosion.
Diese Bilder gingen um die Welt: 150.000 Briten gingen am vergangenen Wochenende in London auf die Straße
Nun droht auch das politische System zu explodieren.
„Weimar Britannien“, titelt das konservative Spectator-Magazin an diesem Wochenende. Die Konservativen kämpfen nach einer historischen Wahlniederlage in der Opposition ums Überleben, haben ausgerechnet beim Topthema Migration jede Glaubwürdigkeit verloren. Die linke Labour-Partei von Premierminister Starmer ist ebenfalls eingebrochen und versucht, mit immer neuen Verschärfungen in der Einwanderungs- und Asylpolitik gegenzusteuern. Getrieben werden die großen Parteien vom früheren Brexit-Vordenker Nigel Farage, dessen Partei in den Umfragen vorne liegt – und von Tommy Robinson.
„Großbritannien ist wütend, es steht kurz vor dem Siedepunkt“, sagt der Mann, der die Straße hinter sich wähnt. „Wir haben es geschafft, diese Wut aufzugreifen, zu kanalisieren und in eine positive Richtung zu lenken. Denn die Wut der Menschen ist völlig gerechtfertigt.“ Dann fügt er hinzu: „Deutschland sollte ebenfalls wütend sein.“
Die zentrale Forderung der Demonstranten: „Wir wollen unser Land zurück“
Manchmal klingt Robinson wie ein rhetorisch begabter AfD-Politiker, doch in einem zentralen Punkt unterscheidet sich seine Botschaft von der deutschen Rechtsaußen-Partei. Es geht ihm nicht um „die Migranten“, nicht einmal primär um „die illegalen Migranten“, sondern um den Islam.
Im Gefängnis hat er den Koran gelesen, erzählt er gerne. Seitdem sieht er den Islam als Ideologie, die den freien Westen unterjochen will, befürchtet einen Bürgerkrieg zwischen Islamisten und allen anderen. Seit mehr als 15 Jahren warnt er vor der Ausbreitung des Islam und rattert Zahlen herunter, um seine Thesen zu belegen: „Ein Afghane wird mit 22-fach höherer Wahrscheinlichkeit eine Vergewaltigung in unserem Land begehen.“ Oder: „Innerhalb von drei Jahren haben sich mehr Muslime dem IS angeschlossen als jemals dem britischen Militär.“
Minutenlang kann Robinson die Namen und Geschichten von Menschen auflisten, die von muslimischen Migranten ermordet, verwundet oder vergewaltigt wurden. Immer wieder beklagt er, dass Briten, die dagegen ihre Stimme erheben, als rechtsextrem und rassistisch diffamiert würden.
Träumt von AfD-Bündnis: Tommy Robinson, der eigentlich Stephen Yaxley heißt
Er habe nichts gegen Einwanderer, sagt Robinson und kritisiert jene, die gegen Migration im Allgemeinen seien. „Sie geben allen die Schuld, obwohl das Problem die islamische Zuwanderung ist“, sagt Robinson. „Gibt es ein Problem mit Ukrainern? Vergewaltigen sie? Morden sie? Sprengen sie etwas in die Luft?“
Geht es nach Robinson, sollten in Großbritannien lebende Muslime abgeschoben werden, wenn sie einen Scharia-Staat unterstützen – auch britische Staatsbürger. Damit ist er radikaler als die AfD. Er stellt Muslime gerne mal unter Generalverdacht und rudert dann zurück: Natürlich gebe es auch nette.
Robinson glaubt, dass die Mehrheit der Menschen ihm zustimmt – auch der Deutschen. „Sie haben nur Angst, es zu sagen. Wegen der radikalen, gewalttätigen islamischen Gemeinschaft in Eurem Land. Wenn Eure Politiker gegen den Islam auftreten und die Wahrheit sagen würden, müssten sie wie Geert Wilders (holländischer Politiker, d. Red.) in einem Bunker leben.“
Robinson hat gute Freunde in Deutschland. 2015 besuchte er die Pegida-Aufmärsche im Osten und sieht in Berlin die gleichen Probleme wie in London: „Wenn ich in eure Hauptstadt reise, sieht sie nicht mehr wie eine deutsche Hauptstadt aus.“
Immer wieder wurde Robinson festgenommen, wie hier 2023 in London
Einer seiner deutschen Freunde ist der AfD-Abgeordnete Petr Bystron, der auf der Londoner Demo eine Rede hielt. Bei der nächsten Kundgebung, hofft er, soll die AfD-Chefin sprechen. „Wir wollen Alice Weidel. Sie ist die nächste Kanzlerin Deutschlands“, sagt der Brite. Er sei mit der AfD bereits „in Gesprächen“.
Ex-Hooligan Robinson und Ex-Bankerin Weidel vereint auf den ersten Blick wenig, jedoch teilen sie sich einen mächtigen Unterstützer: Elon Musk, US-Milliardär und Eigentümer der „X“-Plattform, hält beide Personen für die Retter ihrer jeweiligen Länder. Wie auf dem AfD-Parteitag ließ er sich auch zur London-Demo per Video dazuschalten.
Robinson ist „verdammt müde“ nach dieser Woche und braucht dringend Urlaub. Aber dass ein Reporter von der größten deutschen Zeitung extra für ihn nach London fliegt, schmeichelt ihm zu sehr. Auch, wenn er „Mainstream-Medien“ nicht vertraut und das Gespräch deshalb aufzeichnet. Doch es ist vielleicht die beste Woche in Robinsons Leben. Er selbst ist euphorisch und sagt politische Umwälzungen binnen ein bis zwei Jahren voraus: „Es wird eine andere Welt sein, sie können es nicht aufhalten.“ Ob er selbst bei der nächsten Wahl für ein Amt kandidieren wird, weiß er nicht. Die lange Liste der Vorstrafen, die Gefängnisaufenthalte seien den Menschen „egal“, glaubt er.
Vom Hooligan zum Organisator von Massenprotesten: Tommy Robinson
Robinson will „kulturelle Revolution“
Robinsons Ziel ist die Aktivierung der Nicht-Wähler, wie er selbst einer ist. „Neun Millionen Menschen haben für Keir Starmer gestimmt“, rechnet er vor. „20 Millionen Menschen haben nicht gewählt.“ Sie will er „elektrisieren und ihnen klarmachen, dass ihre Stimmen zählen und dass ihr Land davon abhängt, dass sie ihre Stimmen abgeben“, dann seien sie „die Lösung für dieses Chaos“.
Robinson will eine „kulturelle Revolution“. In Großbritannien, aber auch in Deutschland. „Die deutschen Patrioten und die britischen Patrioten“ sollten „vereint“ sein. Der Brite ist wie im Rausch, wenn er über die politischen Veränderungen in seinem Land spricht: „Die Dinge haben sich so schnell, so rasant verändert. Also hatten wir einen Plan, wir setzen unseren Plan immer noch fort: ,Verschiebe die Kultur, dann verschiebst Du die Politik.‘“
Ironischerweise ist es der politische Stillstand in der Migrationsfrage, der Robinson erst groß gemacht hat. Wegen des Unvermögens britischer Politiker steht er nun auf der größten Bühne Londons. Sie haben ihn, den vorbestraften Fußball-Hooligan, unterschätzt. Und zum ersten Mal haben sie Angst vor ihm.