Hertha BSC: Wie Michaël Cuisance den Spaß am Fußball wiederfand

Hertha BSC: Wie Michaël Cuisance den Spaß am Fußball wiederfand

Berliner gibt bei TM Einblick 

Hertha BSC: Wie Michaël Cuisance den Spaß am Fußball wiederfand

©IMAGO

Michaël Cuisance galt in jungen Jahren als eines der größten Talente seiner Generation. Technisch herausragend, kreativ, unberechenbar. Ebenso früh begleitete ihn indes der Ruf eines Spielers, der vermeintlich zu wenig aus seinen Möglichkeiten machte. Heute, Jahre später, steht der Franzose bei Hertha BSC für Stabilität, Reife, akribische Arbeit – und für einen Profi, der in der Hauptstadt auf wie neben dem Rasen seinen Platz gefunden hat.

Transfermarkt traf den 26 Jahre alten Mittelfeldmotor der Hertha vor dem Hinrundenfinale. Cuisance spricht reflektiert über die Gründe für seinen Imagewandel. Er gibt Einblick, warum er zwischenzeitlich den Spaß am Fußball verlor und wie er diesen wiederfand – und welche Rolle insbesondere seine Familie sowie die Arbeit im mentalen Bereich dafür spielten, dass er heute die „beste Version des Menschen Michaël Cuisance“ sein kann.

Jetzt im Forum über Hertha BSC diskutieren.

Bei der in den letzten Wochen aufstrebenden Hertha ist Cuisance seinem einstigen Ruf längst enteilt. Er ist Teil eines funktionierenden Berliner Kollektivs, in dem er seine eigene Rolle selbstbewusst beschreibt: „Ich würde mich schon als Führungsspieler bezeichnen. Aber eher spielerisch betrachtet. Ich bin kein Lautsprecher. Ich denke, dass ich meine Rolle in unserer Struktur gefunden habe. Und ich glaube auch, das geht mittlerweile jedem meiner Kollegen so. Das macht uns stark und ist auch die Basis, um gemeinsam erfolgreich zu sein.“

Diese Klarheit ist auch das Ergebnis eines Lernprozesses. Cuisance weiß heute, dass ausschließlich Begabung im Profifußball nicht trägt – eine Erkenntnis, die er sich im Laufe der Jahre erarbeiten musste. „Talent ist gut, aber es reicht allein nicht aus – diese Erfahrung habe ich in der Vergangenheit selbst machen müssen. Alles Talent dieser Welt hilft dir nicht weiter, wenn du nicht zusätzlich bereit bist, jeden Tag auf dem Trainingsplatz hart zu arbeiten“, sagt er mit Blick auf seine Entwicklung. Herthas Keeper Tjark Ernst adelte diese kürzlich wie folgt: „Wie intensiv er immer wieder gegen den Ball läuft, ist für einen Spieler mit seiner Fußballqualität nicht selbstverständlich. Das muss man auch mal hervorheben. Ich glaube, er ist einfach ein Vorbild für die gesamte Mannschaft, was die Laufbereitschaft gegen den Ball angeht.“

Cuisance über Eichhorn: „Kann mich Stück weit in seine Situation fühlen“

Cuisances in Berlin manifestierte neue Reife zeigt sich auch im Umgang mit jungen Mitspielern, wie mit dem in dieser Saison bis dato in besonderer Weise auftrumpfenden Kennet Eichhorn. Der Franzose, der selbst mit 17 Jahren den Sprung zu den Profis gemacht hatte, erkennt beim 16 Jahre alten Eigengewächs durchaus Parallelen zur eigenen Vergangenheit.

„Natürlich kann ich mich aufgrund meines eigenen Werdegangs auch ein Stück weit in seine Situation hineinfühlen. Dennoch ist jeder Spieler individuell und anders. Was ‚Kenny‘ spielerisch leistet, ist für sein junges Alter beeindruckend, davon konnten sich alle in dieser Hinrunde überzeugen. Um solche Leistungen auch auf Sicht beständig abrufen zu können, benötigen junge Spieler insbesondere in der Anfangszeit viele Freiheiten und ein schützendes Umfeld, das Druck rausnimmt, damit seine weitere Entwicklung bestmöglich weitergehen kann. Ich glaube, ‚Kenny‘ hat das und deswegen sollte er einfach so weitermachen, jeden Tag an sich arbeiten und auf seine Qualitäten vertrauen.“

Cuisance formuliert im Gespräch mit TM zugleich Ratschläge, reflektiert und nicht belehrend, an Youngster wie Eichhorn, die schon in jungen Jahren ins Geschäft geworfen werden. „Der Profi-Fußball ist ein schwieriges Terrain. Man muss sich auch abseits des Platzes vielen Herausforderungen stellen. Das kann gerade für junge Spieler gefährlich sein, weil ihnen die Erfahrung oder die persönliche Reife fehlt. Ein unterstützendes Umfeld, das solche Dinge auffängt, ist enorm wichtig, damit man sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Bodenständig bleiben, die äußeren Einflüsse ausblenden, Disziplin und harte Arbeit – das sind die Dinge, zu denen ich jedem jungen Spieler auf dem Sprung zum Profi raten würde.“

Ziehen im Hertha-Mittelfeld gemeinsam die Fäden: Michaël Cuisance und Kennet Eichhorn

Ziehen im Hertha-Mittelfeld gemeinsam die Fäden: Michaël Cuisance und Kennet Eichhorn

Auf einen Marktwert von 12 Millionen Euro wurde Cuisance nach seinem 8-Millionen-Wechsel von Borussia Mönchengladbach zum FC Bayern München im Jahr 2019 taxiert, bis heute persönlicher Höchstwert. Wenn Cuisance auf seine eigene Laufbahn blickt, tut er das ohne Zweifel oder gar Bitterkeit. Die medial in den vergangenen Jahren häufiger aufgeworfene Erzählung vom Spieler, der zu wenig aus seinen Möglichkeiten machte, berührt ihn nicht.

„Ich bin sehr zufrieden. Ohne Frage hatte ich in der Vergangenheit schwierige Phasen, aber das gehört dazu. Sie sind Teil jeder individuellen Entwicklung – wichtig ist, dass man aus ihnen lernt. Ich bin heute der Spieler, der ich bin, weil ich auch diese negativen Erfahrungen gemacht habe. Der Gedanke, dass ich etwas hätte anders machen müssen, beschäftigt mich eigentlich nicht, weil ich rückblickend aus jeder Station in meiner Laufbahn etwas für meine fußballerische und meine persönliche Entwicklung mitnehmen konnte und daran gewachsen bin. Natürlich hätte ich als Fußballer manche Entscheidungen auch anders treffen können – aber das ist das Leben. Ich bin glücklich und habe auf und neben dem Platz Stabilität gefunden.“

Cuisance: Beim FC Bayern viel von Thiago & Kimmich mitgenommen

Diese Stabilität speist sich längst nicht mehr nur aus dem Fußball. Neue Rollen, neue Perspektiven haben seinen Blick geweitet und ihn verändert. „Wenn man als Mensch offen für neue Erfahrungen ist, kann man davon in den allermeisten Fällen nur profitieren. Ich habe in Deutschland und Italien sehr viel gelernt – über den Fußball im Allgemeinen, aber auch über Trainer, Vereine oder Spieler im Speziellen. Heute bin ich aber nicht mehr nur der Spieler Michaël Cuisance, ich bin seit einiger Zeit auch Papa. All das hat dazu geführt, dass ich heute in meinen Augen die bis dato beste Version des Menschen Michaël Cuisance bin.“

Ein prägendes Kapitel seiner Karriere bleibt der Wechsel zum FC Bayern. Sportlich reizvoll, im Rückblick aber verfrüht. Eine Einschätzung, die Cuisance heute offen teilt. „Der Schritt kam aus der heutigen Perspektive zu früh. Aber wenn Bayern anfragt, dann ist es sehr schwer, Nein zu sagen. Ich hatte zwei gute Jahre in Mönchengladbach, wurde dort unter anderem zum Spieler der Saison gewählt. Der FC Bayern hat in dieser Situation sein Interesse hinterlegt und mir aufgezeigt, dass man perspektivisch mit jungen Spielern die Basis für die Zukunft legen möchte. Ich habe dann nicht so viel Spielzeit bekommen, aber wenn ich zum Einsatz kam, waren meine Leistungen immer gut. Ich denke schon, dass ich in diesen Momenten auch gezeigt habe, warum ich dorthin gewechselt bin und warum ich geholt wurde.“

Trotz der begrenzten Einsatzzeiten überwiegt für ihn aus dieser Zeit der Lerneffekt – gerade im täglichen Umgang mit absoluten Topspielern. „Ich habe viel von Spielern wie Thiago Alcántara in Sachen Technik oder Joshua Kimmich in Sachen Mentalität gelernt. Trotz wenig Spielzeit habe ich auch aus München etwas für meine persönliche Entwicklung mitgenommen. Und wir haben in dieser Zeit alles gewonnen, was ging“, meint er mit einem Lachen.

Cuisance (u.r.) und die Münchner „French Connection“ 2020 mit der Champions-League-Trophäe

Cuisance (u.r.) und die Münchner „French Connection“ 2020 mit der Champions-League-Trophäe

Cuisance über Fehler in Italien: „Sollte seinen Vertrag immer akzeptieren“

Wenngleich aus der Zeit auf dem Papier drei Meisterschaften, ein Pokalsieg und ein Triumph in der europäischen Königsklasse zu Buche stehen, fand Cuisance das sportliche Glück an der Säbener Straße nicht. Einer zwischenzeitlichen Leihe in die Heimat zu Olympique Marseille folgte im Januar 2022 der Wechsel nach Venedig. Den Karriere-Abschnitt in Italien bezeichnet der Mittelfeldspieler rückblickend als „keine einfache Zeit“. Sportliche Frustration und persönliche Enttäuschung vermischten sich – und erstmals ging ihm der Spaß am Fußball verloren, erzählt er im TM-Interview.

„Ich war sehr dankbar für die Chance, mit Venedig in der Serie A spielen zu dürfen, aber wollte den Klub nach dem Abstieg in die zweite Liga gerne verlassen. Wir haben damals viele Gespräche mit den Verantwortlichen geführt, aber sie haben einem Wechsel letztlich nicht zugestimmt. Darüber war ich sauer und das Verhältnis war ab diesem Zeitpunkt belastet. In dieser Situation habe ich ein Stück weit die Lust und den Spaß verloren. Dass es schwierig ist, etwas zu tun, was man eigentlich nicht will, kennt, denke ich, jeder Mensch. Ich wollte weg und habe in dieser Zeit nicht mehr die Leidenschaft eingebracht, die notwendig ist, um Höchstleistungen abzurufen. Das war ein Fehler, den man als Profi nie machen sollte. Man muss seinen Vertrag immer respektieren, auch in schwierigen Phasen.“

Cuisance im Trikot von Venedig, hier gegen Inters Çalhanoğlu

Cuisance im Trikot von Venedig, hier gegen Inters Hakan Çalhanoğlu

Cuisance: Wie Tobias Schweinsteiger ihm zurück in die Spur half

Erst erneute Transfers brachten die Wende. „Nachdem zur Halbserie doch noch der Wechsel zu Sampdoria klappte, ging es auch bei mir wieder bergauf. Ich habe in dem halben Jahr in Genua wieder Serie A spielen dürfen, leider lief es für uns als Mannschaft insgesamt nicht gut. Der Wechsel nach Osnabrück im Sommer war eine Last-Minute-Aktion. Ich habe damals mit Tobias Schweinsteiger gesprochen, den ich aus München kannte und der in meinen Augen nicht nur ein Super-Trainer, sondern auch ein großartiger Mensch ist. Er war der Grund, warum ich den Schritt zum VfL gegangen bin. Ich habe in Osnabrück mit wenigen Ausnahmen immer gespielt, was mir nach den vorherigen Stationen unheimlich viel gegeben und auch mein Selbstvertrauen zurückgebracht hat. Ich konnte mich und meine Qualitäten dort wieder zeigen und habe so auch den Spaß am Fußballspielen zurückgewonnen.“

Parallel begann Cuisance intensiv an sich zu arbeiten: „Ich kam aus einer schwierigen Situation, in der ich meine sportliche Karriere unbedingt wieder vorantreiben wollte. Ich habe dafür alles gemacht, was möglich ist. Ich habe viel Geld investiert und mit Personal-Coaches zusammengearbeitet, um neben der körperlichen Fitness auch im mentalen Bereich die notwendige Stabilität zu erlangen. Das hat mir sehr geholfen und ich habe vor allem gelernt, dass man nie darauf warten sollte, bis man an einen vermeintlichen Tiefpunkt gelangt. So, wie man als Profi-Sportler und Athlet täglich an seiner körperlichen Fitness arbeitet, sollte man das beständig und vorausschauend auch im mentalen Bereich tun. Das habe ich in der ersten Phase meiner Laufbahn leider verpasst.“

Bei der Hertha in die Leader-Rolle hineingewachsen: Michaël Cuisance

Bei der Hertha in die Leader-Rolle hineingewachsen: Michaël Cuisance

Herthas Cuisance über Zweifel: „Weiß, wozu ich auf dem Platz fähig bin“

Der Glaube an sich selbst blieb jedoch stets erhalten. Zweifel kennt auch er, attestiert Cuisance im Gespräch mit TM. Aber sie bestimmten ihn nie. „Ich denke, es ist ganz normal und menschlich, dass man manchmal an sich selbst zweifelt. Insbesondere, wenn die Dinge im Leben nicht so laufen, wie man sie sich eigentlich vorstellt. Aber ich habe auch in den schwierigen Zeiten den Glauben an mich selbst nie verloren. Ich weiß, wozu ich auf dem Fußballplatz fähig bin und kenne meine Qualität. Ich arbeite heute intensiver als je zuvor dafür, damit ich diese jeden Tag aufs Neue abrufen kann. Ich fühle mich heute besser als je zuvor, ich bin die beste Version von Micka.“

Was diese Version ausmacht, bringt er selbst auf den Punkt: „Wenn Du nicht frei im Kopf bist, kannst du keine Höchstleistungen abrufen. Ich bin ein Kreativspieler, ich brauche Freiheit auf dem Platz. Die gibt mir der Trainer hier bei Hertha BSC. Aber ich brauche auch Freiheit im Kopf. Nur weil ich gelernt habe, wie ich mir selbst diese Freiheit schaffen kann, bin ich heute die in meinen Augen beste Version meiner selbst – der ‚Happy Micka‘“, lacht Cuisance.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei sein privates Umfeld. Die Geburt seines Sohnes hat seine Prioritäten verschoben und ihm sowie seiner ganzen Familie neuen Halt gegeben. „Ich kann sagen, dass die Geburt unseres Sohnes mein Leben komplett verändert hat. Er kam zu einem Zeitpunkt zur Welt, als in meiner sportlichen Karriere nicht alles rund lief. Auch zwischen mir und meiner Frau war damals nicht alles so perfekt, wie man es sich vielleicht wünscht. Wir haben in der Zeit nach der Geburt wieder enger zusammengefunden und unser Sohn hat uns als Familie gefestigt. Das Familiäre ist für mich sehr wichtig und bedingt das ganze Leben, auch das Sportliche. Ich bin sehr glücklich darüber, heute sagen zu können, dass ich eine perfekte Familie habe. Das ist auch ein Grund, warum ich auf dem Platz performen und mein Bestmögliches für Hertha geben kann.“

Zuletzt tat er dies am Freitagabend in Fürth mit zwei Assists. Angesprochen darauf, wie er sich bei der Hertha seit seinem Wechsel vor eineinhalb Jahren mittlerweile eingefunden hat, betont der Profi: „Wenn man sich nach dem ersten Jahr auf einen neuen Vertrag und eine langfristige Zusammenarbeit einigt, sagt das, denke ich, sehr viel aus. Das Gesamtpaket stimmt einfach: Ich fühle mich hier beim Verein Hertha BSC sehr wohl, meine Familie fühlt sich hier in der Stadt Berlin sehr wohl. Ich kann sagen, dass ich etwas Vergleichbares in meiner Karriere zuvor nicht erlebt oder empfunden habe. (…) Der Verein ist ambitioniert und ich kann mich absolut mit seinen Zielen und Werten identifizieren. Deswegen bin ich ein Herthaner.“

Michaël Cuisance scheint angekommen. Als gereifter Profi, der weiß, wer er ist, was er kann und wofür er arbeitet. Auf dem Platz, neben dem Platz und im Leben. Die beste Version seiner selbst.

Text und Interview: Thomas Deterding

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