Weltenbummler blickt zurück

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Manche Menschen sammeln Briefmarken oder Fußball-Trikots, die bemerkenswerteste Kollektion von Otto Pfister ist die der Ex-Klubs und Nationalmannschaften, die er als Trainer betreute. Am Montag, 24. November, wird die Weltenbummler-Legende 88 Jahre alt. In seiner mehr als 55 Jahre langen Laufbahn als Übungsleiter war der gebürtige Kölner in 23 verschiedenen Ländern aktiv und stand bei zwölf unterschiedlichen Nationalteams in der Verantwortung. Er trainierte Samuel Eto’o oder Emmanuel Adebayor und fuhr mit Togo zur WM. Bei Transfermarkt blickt Pfister auf seine lange Karriere zurück, die möglicherweise immer noch nicht ganz beendet ist.
Es bedurfte einiger Erklärung bei Freunden und Bekannten, als vor wenigen Wochen in verschiedenen Medien gemeldet wurde, dass Otto Pfister als Technischer Direktor beim algerischen Erstligisten USM Algier in den Profifußball zurückkehren würde. Es war eine Ente. Pfister bleibt im Ruhestand, wenngleich er gesteht: „Ich bin vom Virus Fußball befallen.“ Eine Rückkehr ist keineswegs ausgeschlossen. „Ich war auf vier Kontinenten und in 23 Ländern als Trainer tätig, mich treibt das Fernweh an, und wenn etwas Spannendes kommen würde, würde ich wahrscheinlich nicht Nein sagen. Das Gute ist, dass mich meine Frau überall hinbegleitet, wenn sie damals Nein zu den Ländern gesagt hätte, wäre es schwierig geworden.“
Anfangs trainierte der gebürtige Kölner nur Mannschaften in der Schweiz, doch Pfister trieb es in die Ferne. „Ich habe als Jugendlicher alle Romane von Karl May gelesen. Auch jegliche Bücher, die von exotischen Ländern gehandelt haben, haben meine Abenteuerlust noch mehr gesteigert. Mein Wunsch war es somit immer, mal im Ausland zu arbeiten. Durch einen Zufall habe ich damals einen Referatsleiter kennengelernt, der im Auswärtigen Amt für Traineranfragen aus dem Ausland zuständig war und diese auch koordinierte. Eigentlich sollte meine erste Nationalmannschaft Algerien werden, jedoch klappte das aus verschiedenen Gründen nicht. Durch das Referat habe ich dann erfahren, dass Ruanda einen Nationaltrainer suchte, und das klappte.“
Pfister: „Die Afrikaner wissen um ihre vielleicht einzige Chance“
Während man heute Informationen über Länder und Nationalmannschaften innerhalb weniger Minuten einholen kann, war das in den 70er-Jahren alles andere als leicht. Vielmehr stürzte Pfister 1972 in ein ungewisses Abenteuer. „Ich hatte in Ruanda und später Burkina Faso das Glück, dass die Länder verhältnismäßig klein waren und damals die Nationalspieler nur im Inland gespielt haben. So konnte ich mir viele Spiele live anschauen und meine Spieler scouten. Schwieriger wurde es später dann beispielsweise in Ghana, wo ich die einzelnen Klubs angeschrieben habe mit der Bitte, dass Sie mir ihre besten Spieler zur Auswahl schicken. Zwischenzeitlich musste ich aus 220 Spielern eine Auswahl treffen.“
Ziemlich schnell durfte Pfister lernen, dass nicht nur das reine Vermitteln von Wissen der ausschlaggebende Faktor ist, um erfolgreich zu sein. Auch Flexibilität und Spontanität haben einen entscheidenden Anteil. „Ich habe viele deutsche Trainer erlebt, die im Ausland gescheitert sind, weil sie auf Biegen und Brechen ihre deutschen Prinzipien durchdrücken wollten. Das Wichtigste ist die Akzeptanz und der Respekt vor meinem Gegenüber. Ich bin als Trainer zu Gast in einem Land, entsprechend muss ich mich anpassen, wenn ich erfolgreich sein möchte. Auf dem afrikanischen Kontinent habe ich so viele unglaublich talentierte Fußballer kennenlernen dürfen. Die Afrikaner wissen um ihre vielleicht einzige Chance und sie geben alles, um ihre Chance zu nutzen. Samuel Eto’o hat mir einmal gesagt, auf die Frage, warum er vor dem normalen Training noch eine Zusatzeinheit absolviert: ‚Das Universum hat mir ein Talent geschenkt, damit spielt man nicht oder vergeudet es, man nutzt es.‘“
Mit einem Schmunzeln erinnert sich Pfister an die Besonderheiten im afrikanischen Fußball. „Es geht nichts ohne Medizinmann. Zu jeder Delegation gehört mindestens ein Medizinmann. Ich habe häufig erlebt, dass vor den Spielen Zeremonien durchgeführt wurden. Einmal hat mein Co-Trainer unserem Torwart rotgefärbtes Wasser zu trinken gegeben, damit sollte er zu null spielen. Leider haben wir nach drei Minuten bereits das erste Gegentor kassiert.“ Als Pfister in Ruanda übernahm trauten nur wenige Kollegen ihm zu, langfristig im Land zu bleiben. Am Ende wurden es ganze vier Jahre. Im ostafrikanischen Land begann auch der Startschuss für eine weitreichende Karriere. Die Abenteuerlust packte Pfister. Es folgten Stationen in Burkina Faso, dem Senegal und der Elfenbeinküste. Somit war der Ruf als Globetrotter geboren.
Pfisters Perspektive: „Globetrotter“ ja, „Afrika-Kenner“ nein
„Ich bin stolz auf den Zusatz Globetrotter. In der Trainerszene gibt es aber auch viel Neid und Missgunst. Auf einem Trainerkongress bekam ich mit, wie man sich abfällig über mich unterhielt und einer der Kollegen sich lautstark darüber aufregte, wie ich denn nach Saudi-Arabien käme. Ich bin dann zu ihm hin und sagte völlig emotionslos: Von Zürich fliegen jeden Tag drei Maschinen Richtung Riad“, erinnert sich Pfister lachend, der von 1997 bis 1998 die saudi-arabische Nationalmannschaft betreute.
Die Reise in teilweise von Armut betroffene Länder sorgte bei Pfister immer wieder für Demut. Gleichzeitig wurde ihm auch deutlich welchen Stellenwert der Fußball hat, wenn es um einen Ausweg und die Chance auf ein besseres Leben geht. „Wir im deutschsprachigen Raum leben in einem absoluten Paradies. Ich kann diese Diskussionen oder gar die Jammerei, es würde einem so schlecht gehen, nicht mehr hören. Wenn man erlebt hat, was Krieg, Hunger oder fehlende medizinische Versorgung mit einer Bevölkerung macht, dann würden viele leise sein. Ich habe Mütter gesehen, die ihre Kinder verloren haben, weil sie kein Geld für einen Arzt hatten. Ich habe Mütter gesehen, die mit ihrem wenige Wochen alten Kind an der Straße gebettelt haben. Für viele Menschen ist der Fußball häufig der einzige Weg aus der Armut und die Möglichkeit, ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Ich habe auch viel Dankbarkeit in Afrika gesehen. Viele Nationalspieler bauen Krankenhäuser oder Schulen und versuchen so, ihr Land mitaufzubauen.“

Mit Emmanuel Adebayor und Togo fuhr Otto Pfister 2006 zur WM in Deutschland
Den Zusatz Afrika-Kenner mag Pfister hingegen nicht. „Ich weiß, dass viele in mir einen Afrika-Kenner sehen, aber das bin ich gewiss nicht. Der afrikanische Kontinent ist so komplex und vielfältig, du kannst vielleicht eine Idee vom Kontinent oder ein jeweiliges Land haben, aber niemals würde ich behaupten, ich kenne das Land. Deshalb finde ich auch immer wieder lustig, wenn Politiker behaupten, sie wären Afrika- oder Nahost-Experten.“
In diesem Zuge erinnert er sich insbesondere an die U17-WM im Jahr 1991. Völlig überraschend sicherte sich die ghanaische U17-Nationalmannschaft den WM-Titel und besiegte im Finale Spanien mit 1:0. Ein Spieler, der sich in diesem Turnier in Szene spielen sollte, war der damals noch unbekannte Sammy Kuffour. „Uns haben anschließend Zehntausende am Flughafen begrüßt. Der damalige ghanaische Staatspräsident Jerry Rawlings hat die Konferenz der Blockfreien Staaten unterbrochen und ist zum Flughafen geeilt. Daraufhin wurde vier Tage durchweg gefeiert. Ich habe im Nachgang einen handschriftlichen Brief von Sepp Blatter mit Glückwünschen erhalten. Besonders berührt hat mich, dass ein paar Wochen später auf einer Trainertagung Franz Beckenbauer zu mir kam und mir persönlich zum Erfolg gratulierte.“
Die Beziehung zwischen dem ghanaischen Fußballverband und dem Deutschen sollte zu einer Erfolgsgeschichte werden. Ein Jahr später führte er die A-Nationalmannschaft mit Spielern wie Abédi Pelé und Anthony Yeboah bis ins Finale des Afrika-Cups. 1992 erhielt er die Auszeichnung „Trainer des Jahres“ in Afrika. Große Erfolge feierte Pfister jedoch nicht nur auf Nationalmannschaftsebene, sondern auch als Vereinstrainer. Dazu zählen die ägyptische und libanesische Meisterschaft sowie die Ligapokaltitel in Tunesien und dem Libanon.
Pfister in Kairo: „Wurden gefeiert, als wären wir absolute Volkshelden“
Apropos Auszeichnung: Die wohl kurioseste Prämie erhielt er nach dem Meistertitel mit Al-Merrikh im Sudan. „Mir hat man eine Kollektion von handgeschnitzten Holzfiguren überreicht, die bis heute in meinem Wohnzimmer stehen“, so Pfister, der sich auch gerne an seine Zeit in Ägypten erinnert: „Ich habe damals Zamalek Kairo trainiert, der neben Al Ahly der größte Klub in Ägypten ist. Nachdem wir dort Titel gewonnen haben, wurden wir gefeiert, als wären wir absolute Volkshelden. Ich konnte keinen Meter auf der Straße gehen, ohne erkannt oder angesprochen zu werden. Das Derby hat mich nachhaltig begeistert. Wenn die beiden Teams aufeinandertreffen, steht eine Weltstadt wie Kairo komplett still. Dann ist jeder Stau aufgelöst und jeder Fan sitzt vor dem TV oder im Stadion.“
Für seine Verdienste um den Fußball im Ausland wurde Pfister 2018 „für sein sportliches und sozial-gesellschaftliches Engagement“ mit dem Ehrenpreis des Vereins Deutscher Fußball Botschafter ausgezeichnet. Doch Pfister sah sich in all den Jahren nicht nur als reiner Fußballehrer, sondern auch als Vermittler von Werten und als Mensch, der bei jeder Station versuchte, unterschiedliche Gruppen zusammenzuführen. „Ich habe es als meine Pflicht angesehen, auch als eine Art Brückenbauer zu fungieren. Ich habe bewusst Spieler unterschiedlicher Religionen, Kulturen oder Stämme auf ein Zimmer geschickt. Dabei sind Freundschaften entstanden und es hat sich ein toller mannschaftlicher Zusammenhalt gebildet. Darauf bin ich bis heute stolz.“
Pfister: „Immer mal Anfragen aus Deutschland, aber ganz ehrlich …“
Dass er in seiner langen Karriere nie in seiner Heimat Deutschland eine Stelle übernommen hat, bereut Pfister nicht. „Es gab immer mal wieder Anfragen aus Deutschland, aber ganz ehrlich, mich hat das Ausland immer mehr gereizt. Ich habe das Exotische immer der Bundesliga vorgezogen. Dafür durfte ich zum Beispiel mit Togo an der Weltmeisterschaft in Deutschland teilnehmen, das war eines der großen Highlights für mich.“

WM 2006: Pfister auf der großen Bühne in Frankfurt
Angesprochen auf die besten Spieler, die er trainiert hat, nennt Pfister drei Namen: Samuel Eto‘o, Emmanuel Adebayor und Abédi Pelé. „Alle drei waren in meinen Augen Weltklasse. Emmanuel hatte unglaubliches Selbstvertrauen, er konnte zwei Abwehrspieler durch eine einzige Körperbewegung stehenlassen.“
„Abédi war ein Genie am Ball. Ich habe einmal erlebt, wie er auf dem Stuhl sitzend 20, 30 Minuten jongliert hat. Mit Samuel hatte ich eine lustige Wette: Er liebte Cola. Also hat er mit mir gewettet, dass er von der Sechzehnmeterlinie von zehn Versuchen neun an die Querlatte bugsiert. Er traf genau neun Mal“, erinnert sich Pfister lachend.
So sehr der Fußballlehrer über die Zeit in den Ländern schwärmt, so sehr erinnert er sich auch an durchaus brenzlige und schwierige Situationen, bei denen der Fußball in den Hintergrund geriet. „Bei einem Spiel zwischen Burkina Faso und der Elfenbeinküste traf der gegnerische Torhüter unseren Stürmer so stark, dass dieser extrem blutete. Von sämtlichen Tribünen stürmten Fans los. Die Polizei musste eingreifen. Die Spieler der Elfenbeinküste konnten erst, nachdem der Staatschef eingeschritten war, das Stadion verlassen.“
Pfister: Afrika-Cup ist ein Volksfest
Für das Jahresende hat sich Pfister etwas Freiraum genommen, um den am 21. Dezember startenden Afrika-Cup zu verfolgen. Die Faszination, die dieses Turnier auf dem gesamten Kontinent ausübt, kann der gebürtige Kölner aufgrund erlebter Erfahrungen erklären. „Wenn Hunderte von Menschen in einem kleinen Dorf vor dem vielleicht einzigen TV sitzen, dann ist Afrika-Cup. Dieses Turnier lässt auf dem afrikanischen Kontinent niemanden eiskalt. Es ist ein Volksfest. Es wird gesungen, gelacht, es wird sich verkleidet, jeder Stamm zeigt sich in seinen Gewändern. Alle Emotionen sind dabei, von absoluter Freude bis absolute Traurigkeit. Es ist wie eine Weltmeisterschaft, die nur auf dem afrikanischen Kontinent veranstaltet wird.“
Eine wichtige Lebenslektion möchte Pfister gern weitergeben: „Wenn ich meinem Gegenüber mit Respekt und ohne Vorurteile begegne, können sich viele neue Türen öffnen. Ich rate jedem: Macht euch selbst ein Bild, bildet euch eure eigene Meinung, geht raus und seht, wie wunderschön die Welt ist.“
Interview von Henrik Stadnischenko



